3.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sahen sich alle sechs Umlandkreise – nördlich wie südlich der Elbe – ähnlichen Problemen ausgesetzt. Sie waren durch das Groß-Hamburg-Gesetz von 1937 flächenmäßig dezimiert sowie wirtschaftlich amputiert worden. Durch die aus dem Osten kommenden Flüchtlinge und Vertriebenen sowie die Hamburger Bombenflüchtlinge hatte sich nun umgekehrt nach Kriegsende die Einwohnerzahl im Umland teilweise verdoppelt. Dieser Flüchtlingszustrom rief enorme infrastrukturelle Probleme hervor. Es fehlte an Wohnungen, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, Verkehrswegen – kurzum: an der notwendigen Infrastruktur. Zudem gab es im Umland, abgesehen von der Landwirtschaft, kaum Arbeitsplätze. Die Folge war eine rasch steigende Zahl von Auspendlern, die in der nahen Großstadt Hamburg ihren Arbeitsplatz fanden. Viele Umlandkommunen drohten damit zu reinen Pendlerorten und „Schlafstädten“ zu werden, wie beispielweise Neu-Wulmstorf und Buchholz/Nordheide im niedersächsischen Landkreis Harburg, Glinde und Harksheide im schleswig-holsteinischen Stormarn.

Einerseits also konfrontiert mit einer massiven Beschneidung der eigenen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit durch das Groß-Hamburg-Gesetz von 1937, sahen sich die Umlandkreise andererseits großem Problemdruck ausgesetzt. Dies gebot dringend die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Katalysatorisch wirkte sich hier die in den 1950er Jahren einsetzende, von Hamburg ins Umland ausstrahlende Industriesuburbanisierung aus, den die Umlandkreise früher oder später durch die Gründung von Wirtschaftsförderungsgesellschaften und die systematische Ausweisung neuer Gewerbegebiete stützten. Die Ausgangslage war günstig: Die Metropole Hamburg konnte ihren in den 1950er und 1960er Jahren expandierenden Unternehmen längst nicht mehr genügend Erweiterungsflächen anbieten. Zahlreiche Hamburger Firmen nutzten die Gelegenheit und wanderten teils mit finanzieller Unterstützung der so genannten Zonenrandförderung ins Umland ab – damit setzte im Großraum Hamburg ein über Jahrzehnte anhaltender Prozess der Industriesuburbanisierung ein.

Vor diesem Hintergrund – und gestützt von einer früh einsetzenden, länderübergreifenden Regionalplanung – entfaltete der strukturelle Wandel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine besondere Dynamik. Im nördlichen Hamburger Umland, vor allem in den Kreisen Pinneberg und Stormarn, entwickelten sich in kaum mehr als 20 Jahrzehnten aus ländlich-agrarischen Zonen gewerblich-industrielle Wachstumsregionen. In Stormarn stieg der Industrieumsatz zwischen 1957 und 1975 um 284%, die Zahl der Industriebeschäftigten um 174%. Damit verbunden war ein rasantes Bevölkerungswachstum. [4] Indem die Industriesuburbanisierung dörflich-agrarisch-kleingewerbliche Produktionsformen ablöste, wurde sie zum wichtigsten Katalysator der regionalen Modernisierung im Hamburger Umland. Sie setzte in den späten 1950er Jahren ein und kam in den 1970er Jahren zu einem vorläufigen Abschluss.

Neben der gewerblich-industriellen und bevölkerungsmäßigen Expansion im Hamburger Umland zog er die Ausrichtung von Lebensweise und Lebensstandards an urbanen Leitbildern nach sich. Architektonisch-städtebaulich wurden neuartige Zonen „zwischen Stadt und Land“ geschaffen. Diese Modernisierung fand ihren sichtbaren Ausdruck unter anderem in der verkehrstechnischen Erschließung des Umlandes (vor allem durch Schnellstraßen und Autobahnen sowie die Ausweitung des Bahn- und Busnetzes), im Hochhausbau und in der Verstädterung der Kommunen, deren markantestes Zeichen – beispielhaft in Ahrensburg und Glinde – die städtebauliche Schaffung innerörtlicher urbaner Zentren im Stil der „City“ war. Das Umland orientierte sich dabei an städtischen Standards und gewann Anschluss an die moderne, urban orientierte Gesellschaft. Die dörfliche Klärgrube wurde von der Vollkanalisation abgelöst, die Straßen verbreitert, begradigt, asphaltiert und elektrisch beleuchtet. Ein Telefonanschluss wurde immer selbstverständlicher.

Eine Schlüsselrolle bei dieser Modernisierung spielte die rasch vorangetriebene verkehrstechnische Erschließung des Umlandes. Erst vor kurzem ist die Bedeutung der Verkehrsinfrastruktur für die Konstruktion territorialpolitischer, planerischer, gesellschaftlicher und lebensweltlicher Räume herausgearbeitet worden. [5] Die allumfassende verkehrstechnische Erschließung des Hamburger Umlandes basierte zunächst vor allem auf einer seit den 1960er Jahren zunehmend vom Automobil und preiswertem Treibstoff geprägten Gesellschaft. Die Automobilisierung des Alltags ermöglichte eine inviduelle Mobilität, so dass auch jene Räume des Hamburger Umlandes, die nicht von Bahnstationen bedient wurden, enger mit der Metropole Hamburg verknüpft werden konnten. Kurzum: Räumliche Entfernungen spielten für das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben eine immer geringere Rolle. Ebenfalls durch die massenhafte Verbreitung des Automobils begünstigt wurde das seit den 1960er Jahren zunehmende Bedürfnis nach dem Eigenheim im Grünen. Es löste eine zweite Zuzugswelle ins Umland aus, die so genannte Bevölkerungssuburbanisierung. Die Dörfer übernahmen einerseits zunehmend reine Wohn- und Freizeitfunktionen oder wurden andererseits, vor allem in verkehrsgünstigen Lagen an den Autobahnen, gewerblich-industriell verdichtet (wie Bargteheide im Kreis Stormarn).

Auch auf der Planungsebene wurden Hamburg und das Umland immer stärker miteinander verflochten. Industrie- und Bevölkerungssuburbanisierung sowie der Ausbau der Infrastruktur waren eingebettet in eine länderübergreifende Raumplanung – einem weiteren Katalysator der Modernisierung. Vor allem zwischen den vier schleswig-holsteinischen Umlandkreisen (organisiert in der AG Hamburg-Randkreise) und Hamburg fand eine enge, allerdings gelegentlich auch konfliktgeladene Abstimmung in Sektoren wie Verkehr, Wohnungsbau, Bildungswesen und anderen statt. Raumordnerisch diente diese – für bundesdeutsche Verhältnisse mit 1957 relativ früh einsetzende und intensive – länderübergreifende Regionalplanung zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein vor allem dem Ziel, die gewerblich-industrielle und bevölkerungsmäßige Verdichtung innerhalb des Umlandes auf bestimmte Räume, die bereits erwähnten, von Schumacher konzipierten und später ständig modifizierten Entwicklungs- beziehungsweise Aufbauachsen, zu konzentrieren. [6]

Dass diese Achsen für den regionalen Strukturwandel eine besondere soziale und wirtschaftliche Bedeutung hatten, ließ sich bereits für die Zeit Mitte der 1960er Jahre empirisch belegen. Bereits damals hoben sich die Achsenräume als gewerblich-industriell und bevölkerungsmäßig verdichtete Zonen deutlich von den übrigen Umlandgebieten ab. Der Anteil der Bevölkerung in den Achsenräumen lag – im Vergleich zur Gesamtbevölkerung des Hamburger Umlandes (40-km-Radius) – im Jahr 1964 bei 71%, der Wohnungsbestand bei 73%. Mit anderen Worten: Fast drei Viertel der Bevölkerung und fast drei Viertel der Wohnungen des Hamburger Umlandes konzentrierten sich auf die Achsen. Der Anteil der Beschäftigten betrug sogar 81% (1961). [7]



Quellen

[4] Manfred Willms: Ökonomische Analyse der regionalen Entwicklung von Bevölkerung, Beschäftigten und Wirtschaft im Großraum Hamburg. Unveröffentlichtes Manuskript, [Hamburg/Kiel 1973].

[5] Christoph Neubert/Gabriele Schabacher (Hrsg.): Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft: Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien. Bielefeld 2013.

[6] Nach Empfehlungen des Gemeinsamen Landesplanungsrates Hamburg/Schleswig-Holstein von 1961.

[7] Werner Matti: Raumanalyse des Hamburger Umlandes im Umkreis von 40 km. Hamburg in Zahlen Sonderheft 1 (1965), S. 22 – 23. Dass es sich bei den Achsen um bevölkerungsmäßige Verdichtungszonen handelt, wird auch durch den Vergleich mit dem Nicht-Achsen-Raum untermauert: „In den Aufbauachsen lag die Bevölkerungszahl 1964, gemessen am Vorkriegsbestand, zweieinhalbmal höher, im Durchschnitt der übrigen Gemeinden dagegen nur um das 1,7fache, wobei die Entwickulng dort zwischen 1950 und 1961 rückläufige Tendenz aufwies. Der Wohnungsbestand auf Basis 1950 = 100 betrug im Bereich der Aufbauachsen [1964] 221, im Restgebiet dagegen nur 158. Die Zunahme der Beschäftigten auf Grund der Arbeitsstättenzählungen 1950 und 1961 ergab für die Aufbauachsen eine Steigerung um 70%, in den Restgemeinden um 27%.“ Ebd., S. 23.