Jüdischer Friedhof Altona Königstraße
Der Friedhof zu Beginn des 21. Jahrhunderts - Zwischen Rasengrab und "Friedpark"

Die Bestattungs- und Friedhofskultur befindet sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einem grundlegenden Umbruch. Friedhöfe und Grabstätten, wie sie seit Jahrhunderten der vertraute Schauplatz von Bestattung, Trauer und Erinnerung gewesen sind, verändert ihr Erscheinungsbild und haben zudem Konkurrenz bekommen: "Friedwald", "Friedpark" und weitere neue Formen der Aschenbeisetzung auf der einen, virtuelle Memorial Sites auf der anderen Seite. Sie zeigen sich als sepulkrale Muster veränderter gesellschaftlicher Lebenswelten.

Bereits im späten 20. Jahrhundert veränderte sich das Erscheinungsbild der Friedhöfe verändert. Vor allem ist die "Miniaturisierung der Grabstätten" (H. Weber) vorangeschritten. Mit dem Bedeutungsverlust der klassisch-bürgerlichen Familie und der Zunahme von Single- und Zweier-Haushalten einerseits, der zunehmenden beruflichen Mobilität andererseits haben sich auch die Bestattungsgewohnheiten geändert. Insbesondere ist die anonyme oder Rasenbeisetzung zu nennen, die sich vor allem in den protestantischen Städten Nord- und Ostdeutschlands immer größerer Beliebtheit erfreut. In ihrer extremen Ausprägung ohne jegliche Namens- bzw. Gedächtnistafeln führt sie zur Auflösung jeglicher Form individueller Erinnerung. Bisweilen jedoch erinnert ein Gemeinschaftsdenkmal an die Namen der hier Bestatteten.

Aber die Friedhöfe verändern sich nicht nur durch die Miniaturisierung der Grabstätten. Von großer Bedeutung ist der Einfluss anderer Kulturen und Religionen, insbesondere durch die zunehmende Zahl moslemischer Bestattungen. Die moslemischen Glaubensformen standen lange Zeit (manchmal bis heute) teilweise in Widerspruch zu deutschen Vorschriften. So soll in Tüchern statt eines Sarges beigesetzt werden. Diese Probleme haben in einigen Bundesländern - anlässlich der Novellierung der Bestattungsgesetze ? zur Lockerung und Veränderung der Vorschriften zu Gunsten moslemischer Traditionen geführt.

Zugleich werden neue Formen der Beisetzungskultur kreiert - manchmal im Rückgriff auf alte, fast in Vergessenheit geratene Muster. Ein Beispiel ist das Wiederaufgreifen der Tradition genossenschaftlicher und Gemeinschaftgrabstätten. Bereits Mitte der 1990er-Jahre wurden beispielsweise solche Gemeinschaftsgrabstätten für mittellose AIDS-Tote eingerichtet. Dabei wurden bereits bestehende, aber nicht mehr genutzte historische Grabanlagen unter Beibehaltung des Grabmals umgestaltet. Die AIDS-Toten, die hier ihre letzte Ruhestätte gefunden haben, wären sonst als Sozialbestattung möglicherweise an versteckter Stelle und anonym beigesetzt worden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben sich darüber hinaus weitere Formen der Gemeinschaftsgrabstätten entwickelt. Diese können an einer besonderen Blumensprache orientiert sein: Zum Beispiel eine durch Rosenbepflanzung hervorgehobene Grabstätte. In anderen Fällen dienen sie bestimmten sozialen Gruppen ("Garten der Frauen", Ohlsdorfer Friedhof Hamburg). Aus anderen Ländern sind mittlerweile Gemeinschaftsgrabstätten für die Anhänger bestimmter Fußballvereine bekannt.

Unter einem gänzlich anderem Vorzeichen - aber dennoch bedeutsam für die Friedhofskultur der Gegenwart und Zukunft - sind jene Denk- und Erinnerungsmäler, wie sie mittlerweile auf vielen Begräbnisplätzen für totgeborene Kinder aufgestellt wurden. Diese Anlagen, die häufig in Zusammenarbeit mit lokalen Krankenhäusern entstanden, sind zu besonderen, öffentlichen Orten der Trauer und Erinnerung auf Friedhöfen geworden.

Auch die Aschenbeisetzung hat ihr Entwicklungspotential noch nicht ausgeschöpft. Mögen auch als Diamanten geformte Aschenreste hier zu Lande noch als "Spleen" betrachtet werden, so scheint das Spektrum möglicher neuer Formen der Erinnerung weit. Manchmal werden alte Traditionen wiederbelebt, wie die Beisetzung in einer zum Kolumbarium umgestalteten alten Friedhofskapelle. Aschestreuflächen auf Friedhöfe werden manchmal wie kunstvolle Landschaften modelliert - der "Friedpark" des Hauptfriedhofes Karlsruhe bietet hier ein anschauliches Beispiel. Überhaupt könnten, so sieht es derzeit aus, Natur und Landschaft künftig wieder, wie schon im 19. Jahrhundert, eine größere Rolle bei der Friedhofsgestaltung spielen. Die Zeit der reißbrettartig gestalteten Friedhofsareale, die auf die Friedhofsreform des frühen 20. Jahrhunderts zurückgeht, scheint sich dem Ende zuzuneigen. Die Friedhofsfläche wird stärker als bisher diversifiziert.

Gerade die Umgestaltung der historischen Friedhöfe in den Metropolen bietet möglicherweise praktisches Anschauungsmaterial für den Friedhof der Zukunft. Denkbar wäre ein Konzept, wie es vor einigen Jahren für den Assistens-Friedhof in Kopenhagen entwickelt wurde. Es sieht die Diversifikation der rund 20 Hektar Fläche in vier unterschiedliche Bereiche vor: in einen Museumsbereich mit historischen Grabstätten aus dem ältesten Teil des Friedhofs, einen "Erinnerungspark" (der zugleich der Erholung und der kulturhistorischen Anschauung dient), einer Fläche für aktuelle Belegungen und schließlich einer Parkfläche ausschließlich für Zwecke der Erholung und Freizeit. Dieses Konzept wäre ein Beispiel, das in praktischer Weise zeigt, wie der Tod seinen Platz wieder inmitten der Lebenden finden kann ... .

Zu den bemerkenswertesten Innovationen zählt in diesem Zusammenhang der sogenannte "Friedwald" - eine aus der Schweiz stammende Idee eines Begräbnisplatzes, die auf Natursehnsucht und ökologisches Bewusstsein zurückgreift. Auch in Deutschland gibt es mittlerweile einige "Friedwälder". Zugleich wird diese Form der Natur- bzw. Baumbestattung auch auf regulären kommunalen Friedhöfen angeboten.

Der neue Umgang mit dem Tod lässt immer häufiger auch neue Orte der Trauer im öffentlichen Raum entstehen. Markantes Beispiel bilden jene "Kreuze am Straßenrand", die nach einem tödlichen Verkehrsunfall von Hinterbliebenen aufgestellt wurden. Da die Straße als typisches Symbol der mobilen Gesellschaft gilt, so zeigen sich diese Kreuze als individuell-schöpferischer Akt der Trauer- und Erinnerungsarbeit in einer mobilen Gesellschaft. Zugleich können sie in der Sühnekreuze und Marterln eingeordnet werden. Darüber hinaus sind die Kreuze am Straßenrand auch öffentliche Mahnung an die Lebenden: "Mit [diesen] Erinnerungsstätten, die sich fast ausnahmslos im regionalen Umfeld der betroffenen Familien befinden, wird eine regionale Öffentlichkeit angesprochen", schreibt die Volkskundlerin Andrea Löwer in ihrer Studie zu diesem Phänomen.

Jenseits aller räumlicher Grenzen ist seit Anfang der 1990er-Jahre eine völlig neue Variante von Trauer und Gedächtnis entstanden: der so genannte 2virtuelle Friedhof" des Internet. Manche der virtuellen Grabmäler umfassen seitenlange Lebensgeschichten mit Fotos, bewegten Bildern oder Klangdokumente. Per mail können elektronische Botschaften hinterlassen werden. Während sich das virtuelle Gedenken im "normalen" Umgang mit den Verstorbenen aber noch nicht - und erst recht nicht kommerziell - durchsetzen konnte, erfreuen sich virtuelle Tierfriedhöfe größerer Beliebtheit.

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