Sturmflut, Tod und Mentalität an der deutschen Nordseeküste (16.-19. Jh.)


V.

Das Trügerische der nur scheinbaren wasserbautechnischen Sicherheit zeigt sich mit der Sturmflutkatastrophe vom 3./4. Februar 1825 (im Folgenden nach FISCHER 2003, 245-281). Die Februarkatastrophe wurde rasch zum Gegenstand zeitgenössischer wasserbautechnischer Studien (MÜLLER 1825). Auch fand sie auf Grund der bereits aufgeblühten Presselandschaft in ganz Deutschland starke öffentliche Beachtung und führte zu einer Welle von Spenden. Die Bevölkerung an der Nordseeküste wurde in der Nacht vom 3./4. Februar von den rasch ansteigenden Pegelständen überrascht. In seinem zusammenfassenden Bericht vom 10. Februar über die Folgen der Flutkatastrophe sprach der staatlich-hannoversche Oberdeichgräfe Niemeyer vom „Ruin der Deiche“ an der Niederelbe – eine Einschätzung, die durch die in den Quellen überlieferten Berichte der lokalen Bedienten bestätigt wurde.

Die Zerstörung der Deiche im Februar 1825 traf die regionalen Gesellschaften an der Küste unvermittelt. Die Deichverbände und Interessenten im Land Kehdingen beispielsweise waren in der Folge nicht in der Lage, mit eigenen Mitteln die Deiche wiederherzustellen. Dies erwies sich – neben den zahlreichen Todesopfern, dem ertrunkenen Vieh und dem zerstörten Marschenland – auch als gesellschaftliche Katastrophe, denn das in Kehdingen vorherrschende Deichbewirtschaftungssystem war eng mit den regionalen gesellschaftlichen Strukturen verknüpft. Hier wurde die Katastrophe zum Katalysator eines zunehmenden staatlichen Einflusses. Das nunmehrige Königreich Hannover nutzte die Paralysierung des Marschenlandes, um ihre Vorstellungen eines geregelten Küstenschutzwesens durchzusetzen – nur zwei Jahre zuvor war ja mit der Generaldirektion des Wasserbaues eine der ersten staatlich-hannoverschen Fachbehörden gegründet worden. In der Folge kam es zu massiven staatlichen Eingriffen in die Selbstverwaltung der lokalen Deichverbände und Deichpflichtigen, deren Kompetenzen kurz- und langfristig stark eingeschränkt wurden. Der hannoversche Staat nutzte also die Sturmflutkatastrophe, um in Kehdingen und anderen Marschenländern seine normierte „Ordnung“, seine Vorstellung eines zeitgemäßen Deichwesens durchzusetzen. An diesem Beispiel kann gezeigt werden, wie sehr das Ausmaß einer einzelnen Naturkatastrophe unter den jeweils spezifischen Rahmenbedingungen über das bloße Naturereignis weit hinausreicht. Hingegen spielten Aspekte religiös-spiritueller Sinndeutung nunmehr eine höchstens untergeordnete Rolle.



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