Sturmflut, Tod und Mentalität an der deutschen Nordseeküste (16.-19. Jh.)


IV.

Einige Jahrzehnte später ereignete sich die Weihnachtsflut 1717. Sie zählt in Mitteleuropa zu den legendären Katastrophen der Frühen Neuzeit. Dank der sich allmählich entfaltenden territorialstaatlichen Verwaltungen an der Küste ist sie von einer Vielzahl archivalischer Quellen dokumentiert. Zugleich ist sie in zeitgenössischen Predigten laufend wieder thematisiert worden. Auch hier zeigen sich völlig unterschiedliche Sichtweisen. MANFRED JAKUBOWSKI-TIESSEN hat in seiner erwähnten Studie unter anderem zahlreiche dieser Predigten untersucht. „Dieses Naturereignis“, so schreibt er, „das die existentielle Grundlage so vieler Menschen zerstörte, war in ihren Augen ein Resultat göttlicher Vorsehung. … Da die Sturmflut als eine über die sündige Bevölkerung verhängte Strafe Gottes angesehen wurde, wurde die Gemeinschaft andererseits von der inquisitorischen suche nach Schuldigen entlastet und die Identität und der Zusammenhalt der Gemeinschaft nicht zusätzlich gefährdet“ (Jakubowski-Tiessen 1992, 267-268).

Aber es gibt bedeutsame Indizien für eine andere Perspektive. In diesem Kontext bildet die Homannsche Karte der Überschwemmungsgebiete ein aufschlussreiches Dokument. Der Nürnberger Kartograf, Kupferstecher und Verleger Johann Baptist Homann (1664-1724) fiel immer wieder durch undogmatische religiöse und politische Ansichten auf. Er war seit 1715 Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften. Homanns Karte zeigt die von der Weihnachtsflut 1717 überschwemmten Gebiete einerseits, technische Wasserbauwerke andererseits. Die Botschaft lautet: Wären die Wasserbauwerke auf dem technischen Stand der Zeit gewesen, hätten die Folgen der Flut wenn nicht verhindert, so doch gemildert werden können. Hier zeigt sich also bereits jenes rationalistische Verständnis, das sich dann im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts Bahn brach (ECKARDT 2005).

In der Tendenz vergleichbar ist eine 1718 in Hamburg erschienene anonyme Publikation unter dem Titel „Umständliche Historische Nachricht von der grossen Wasser=Fluth ….“, die sich ebenfalls mit der Weihnachtsflut 1717 befasst. Fast zwitterhaft vertritt der Autor in Einleitung und Schluss die gleichsam „offizielle“ Lesart der Sturmflut als göttlicher Strafe für menschliche Sünden. Dazwischen jedoch – sozusagen versteckt – liefert er naturwissenschaftliche Erklärungen für die Sturmflut und ihre Folgen. Auch dass der unbekannte Autor dem Leser das Urteil über die Sturmflut selbst zubilligt, spricht für die Abkehr von den eingeschliffenen Deutungsroutinen der Geistlichkeit. Nicht zufällig erschien die Schrift in einem der Aufklärung besonders stark verbundenen Hamburger Verlag. [4]

Auch archivalische Quellen unterstützen teilweise eine vernunftorientiert-praktische Sicht. Für die Landesherrschaft an der südlichen Niederelbe bzw. den Herzogtümern Bremen-Verden, die kurz zuvor zum Kurfürstentum Hannover gekommen waren, bildete die Weihnachtsflutkatastrophe eine ungemein schwere Bewährungsprobe. In den Tagen nach der Katastrophe konnte zu vielen überschwemmten Gebieten kein Kontakt hergestellt werden. Vor Ort bemühte sich die Stader Provinzialregierung um Rettungsmaßnahmen – das jedenfalls meldete sie in den letzten Dezembertagen nach Hannover. Die Lage sollte per Schiff von der Elbe aus erkundet werden, da der Landweg wegen der Überschwemmungen weitgehend versperrt war. Gerettete Einwohner – wie auch das überlebende Vieh – ließ die Regierung teilweise auf überschwemmungssichere Geestorte verteilen. Aus anderen, sicheren Gegenden, etwa der Grafschaft Hoya und dem Fürstentum Lüneburg, wurde der Verkauf von Futtermitteln vermittelt. Hier zeigen sich also Ansätze, der Katastrophe auf praktische Weise im Sinne eines fast modernen Katastrophenmanagements zu begegnen.

Wie bereits vermerkt, bieten gerade die kleineren, bisher nur wenig bekannten Sturmflutereignisse aufschlussreiche Einblicke in die Mentalität. Bleiben wir im frühen 18. Jahrhundert. An der Oste, dem größten norddeutschen Nebenfluss der Elbe, erschütterte die Sturmflut vom 4./5. November 1720 mit ihrem schweren Deichbruch bei Blumenthal das Vertrauen der Eingesessenen in die fachliche Kompetenz der staatlichen Wasserbauexperten, vor allem des Oberdeichgräfen Johann von der Beck. Die von letzteren durchgesetzten, aber technisch unzulänglichen Umdeichungsmaßnahmen wurden von der nächsten stärkeren Flut wieder fortgerissen. Das Land stand bis weit ins nächste Jahr hinein wieder unter Wasser, Saat und Ernte waren nicht möglich. Es blieb dem Himmelpfortener Amtmann Pflug vorbehalten, dank seiner vertrauten Kenntnisse der Örtlichkeit einen haltbaren Schutzdeich zu errichten. Aber die mehrfachen Experimente kosteten die anliegenden Bauern etliche tausend Reichstaler, an deren Abzahlung sie jahrelang leiden mussten. Für die Betroffenen vor Ort wirkte sich das Missmanagement staatlicher Experten als Katastrophe aus, weil es die Lebensgrundlage untergrub. In der Folge entstand vor Ort anhaltendes Misstrauen gegenüber staatlichen Wasserbauexperten. [5]

Dies änderte sich erst viele Jahrzehnte später. Die ebenfalls wenig bekannte Sturmflut vom 10./11. Dezember 1792 hatte in den Oste-Kirchspielen Horst und Großenwörden schwere Grundbrüche mit anhaltenden Überschwemmungen verursachten. In Großenwörden musste nach dieser Dezemberflut ein neuer Deich um den Grundbruch gezogen werden, da letzterer nicht wieder durchdeicht werden konnte. Auch hier stand das Land lange Zeit unter Wasser. Etwas aber hatte sich geändert: Denn nun, also Ende des 18. Jahrhunderts, wurden staatliche Wasserbauexperten, wie die hannoverschen Oberdeichgräfen Georg Ludewig Klippe und August Friedrich Renner gern zu Rate gezogen. [6] Inzwischen waren auch wichtige Handbücher zum Deichbau erschienen (BRAHMS, BENZLER).

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Quellen

[4]
Ich danke Kathrin Rentel für den Hinweis auf diese Schrift.

[5]
Siehe dazu die Akte im StA Stade: Rep. 40, Nr. 2382.

[6]
Nach StA Stade, Rep. 80 Wasserbau, Tit. 188, Nr. 4.

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