Prof. Dr. Norbert Fischer

erschienen in: Norbert Fischer, Vanessa Hirsch, Susan Müller-Wusterwitz, Nicole Tiedemann (Hrsg.): Land am Meer. Die Küsten von Nord- und Ostsee. Hamburg 2009

Sturmflutkatastrophen haben über Jahrhunderte hinweg an der Nordsee die Grenzen zwischen Wasser und Land verändert. Sie trafen die Küstenbewohner in ihrer Existenz: den eigenen Lebensbedingungen. Das fruchtbare Marschenland war nach Deichbrüchen überschwemmt und – teils über lange Zeit – nicht mehr bewirtschaftbar. Neben dem Verlust von Saat und Ernte traf auch der Verlust von Vieh die landwirtschaftlich geprägten Regionen ganz erheblich. Nicht zuletzt haben sie die Mentalität der Menschen an der Küste geprägt, weil die Katastrophenfluten – wie auch die Schiffbrüche – eine besondere, maritime Todeserfahrung hervorbrachten. So sind Tod und Trauer zu einem regionalspezifisch-maritimen Topos geworden.

Frühe Aufzeichnungen über Sturmflutkatastrophen an der Nordsee stammen aus dem 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung – und zwar von dem in Germanien stationierten römischen Offizier und Geschichtsschreiber Plinius dem älteren (23/24-79 n. Chr.). Für die gleiche Zeit vermerkte auch der griechische Historiker Cassius Dio eine Sturmflutkatastrophe, die sich rund 60 Jahre n. Chr. ereignet haben soll. Eine friesische Chronik berichtet von einer „gewaltigen überschwemmung Frieslands“ im Jahre 516.

Auch im Verlauf des Mittelalters verheerten Sturmflutkatastrophen die Nordseeküste und veränderten die Küstenlinien. Der Historiker Kay Peter Jankrift hat sie in seinem Buch über mittelalterliche Katastrophen sorgsam verzeichnet. Er schreibt: „Unabhängig davon, ob sich für diese Zeit [des 9. bis 12. Jahrhunderts] eine Phase der Meeresspiegelerhöhung feststellen läßt, steht fest, daß die Küstenbewohner in unregelmäßigen Abständen weiterhin von überschwemmungskatastrophen heimgesucht wurden.“ Jedoch sind auf Grund fehlender schriftlicher Quellen die Angaben unzuverlässig, was Datierung und Zahl der Opfer anbelangt. Als legendär gelten die „Julianenflut“ von 1164, die „Marcellusflut“ von 1219, die „Luciaflut“ von 1287 und die zweite „Marcellusflut“ von 1362, auch als „Groote Mandränke“ bekannt und mythologisch mit dem Untergang Rungholts verbunden. Der schleswig-holsteinische Dichter Detlev von Liliencron widmete diesem Ereignis Jahrhunderte später, nämlich 1882, sein sprichwörtlich gewordenes Sturmflut-Poem „Trutz, blanke Hans“.

In der Frühen Neuzeit werden die Berichte verlässlicher. Das 17. Jahrhundert wurde als „Jahrhundert der Sturmfluten“ bekannt. Beispielhaft genannt sei die „Zweite Mandränke“ vom 11. Oktober 1634. Sie führte zum Untergang von großen Teilen der einstigen nordfriesischen Insel Strand – Pellworm und Nordstrand wurden zu getrennten Inseln – sowie der Halligen Nieland und Nübel. Nach etlichen weiteren Sturmflutkatastrophen im 17. Jahrhundert verheerte im frühen 18. Jahrhundert die so genannte „Weihnachtsflut“ von 1717 die Nordseeküste und sorgte dafür, dass viele Ländereien teilweise monate- und jahrelang überschwemmt bleiben – etwa in Wischhafen an der Niederelbe oder am Larrelter Kolk an der unteren Ems bei Emden.

Mentalitätshistorisch ist aufschlussreich, dass sich die Wahrnehmung der Sturmfluten änderte. Bis in die Frühe Neuzeit hinein wurden sie als gottgegebene Ereignisse empfunden wurden, als regelrechtes „Strafgericht“ für sündiges Leben. Gleichwohl zeigten sich im späten 17. Jahrhundert sich in den archivalischen Quellen – zum Beispiel in den zahlreichen Petitionen an die Obrigkeit – Ansätze eines an alltagspraktischem, aus konkreter Erfahrung gewonnenen Nützlichkeitsdenken. Dies galt etwa für die Sturmflutkatastrophe 1685 an der Niederelbe.

In der Folge sollte dann die Bedrohung durch das Meer gesellschaftlich immer weniger als unabwendbares Schicksal, sondern zunehmend als technisch-rational zu bewältigende Aufgabe betrachtet werden. Im 18. Jahrhundert sah beispielsweise der jeverländische Deichexperte Albert Brahms die Sturmfluten als technisch beherrschbares Ereignis an: „Es ist eine Wasserfluth nicht ein Wunderwerk, sondern hat ihre in der Natur gegründete Ursachen, wie ja wol keiner leugnen wird, der erkennet, was es für eine Eigenschaft in GOTT sey, die wir die Weisheit nennen, so kann ihr, weil der HERR der Natur keine unendliche, sondern nur eine endliche Kraft beygeleget hat, auch durch eine endliche Kraft, dergleichen der Menschen ist, wol widerstanden werden; mithin die Bemühung, sich dawider Sicherheit zu verschaffen, ihren gewünschten Endzweck erreicht.“

Albert Brahms (1692-1758), Landwirt, Deichgraf und Wasserbaufachmann, personifiziert in Deutschland wie kaum ein anderer die veränderte Mentalität im Umgang mit der Nordsee. Geprägt durch die Erfahrungen der Weihnachtsflut 1717, sorgte er als Deichgraf für eins modernes, sicheres Deichprofil mit abgeflachteren Aussenseiten (eine Innovation, die Theodor Storm im späten 19. Jahrhundert in seiner Novelle „Der Schimmelreiter“ thematisierte). Brahms fasste die Summe seiner Erkenntnisse in einem Handbuch zum Deichbau zusammen, dessen zwei Bände erstmals 1754 beziehungsweise 1757 erschienen und bedeutenden Einfluss auf den Wasserbau an der deutschen Nordseeküste ausübte.

Im übrigen spielte auch der immer ausgeprägtere staatliche Einfluß auf das zumeist genossenschaftlich organisierte Deichwesen bei der Rationalisierung im Wasserbau eine entscheidende Rolle. Dies zeigte sich beispielsweise in zunehmend prophylaktischen Maßnahmen bei Deich- und Uferschutz, etwa durch strömungslenkende Stackbauwerke. Beide Tendenzen, Verwissenschaftlichung und Verstaatlichung, liefen im 18. Jahrhundert zusammen – das bisherige Erfahrungswissen der Einheimischen wurden allmählich überlagert vom ingenieurhaften Denken der im späten 18. Jahrhundert zunehmend professionalisierten staatlichen Wasserbauexperten. Exemplarisch sei der im hamburgischen Amt Ritzebüttel an der Elbmündung wirkende Reinhard Woltman (1757-1837) genannt.

Gleichwohl wurden wissenschaftliche Erkenntnisse – etwa zu Stärke und Höhe der Deiche – sowie technische Fortschritte vor Ort höchst ungleichmäßig umgesetzt. Nachlässigkeiten zeigten sich auch in der Deichunterhaltung – regional unterschiedlich und nicht zuletzt beim System der so genannten Pfand- oder Kabeldeichung zu beobachten, bei der der anliegende Landeigentümer selbst für seine teils kleinen und kleinsten Deichstrecken verantwortlich zeichnete. Hinzu kamen im frühen 19. Jahrhundert wirtschaftliche Probleme im Agrarsektor, die die finanziellen Möglichkeiten für Deichunterhaltung sowie Deich- und Ufersicherung in den Nordseemarschen schrumpfen ließen.

So konnte die Katastrophe vom 3./4. Februar 1825 – nach der Weihnachtsflut 1717 die zweite legendäre Sturmflut der Neuzeit – in vielen Regionen an der Nordseeküste verheerende Schäden anrichten. Die Februarkatastrophe fand im übrigen auf Grund der bereits aufgeblühten Presselandschaft in ganz Deutschland starke öffentliche Beachtung. Unter anderem führte sie zu einer Welle nationaler Spendenbereitschaft. Literarisch verarbeitet wurde sie beispielsweise vom Pfarrer und Schriftsteller Johann Christoph Biernatzki (1795-1840), der von 1821-25 auf einer nordfriesischen Hallig wirkte, in „Die Hallig oder die Schiffbrüchigen auf dem Eiland in der Nordsee“ verarbeitet. Darüber hinaus floss die Februarkatastrophe 1825 in die Werke Theodor Storms („Carsten Curator“) und Johann Wolfgang von Goethes („Faust II“) ein.

Der Schock der Februarkatastrophe rief – so zeigt etwa das Beispiel des Königreiches Hannover – den Staat endgültig auf den Plan. Die Wiederherstellungsarbeiten und die anschließenden Deichverstärkungen und –erhöhungen wurden in den hannoverschen Teilen der Küste von staatlichen Wasserbaubeamten zentral gelenkt. Staatliche Standards und Normen lösten die regional vielfach noch unterschiedlich geprägten Vorgaben über Stärke, Höhe und Profil der Deiche ab. Für über 130 Jahre sollte es keine verheerende Katastrophe mehr geben, wenngleich einzelne Sturmfluten lokal und regional immer wieder zu schweren Deichbrüchen und überschwemmungen führten.

Dennoch war es ein Trugschluss zu denken, nach 1825 könnte keine Wassersnot mehr die Marschenländer am Meer bedrohen. Dies zeigte sich spätestens im Februar 1962. Die Sturmflut von 1962 war an der deutschen Nordseeküste die erste wirklich verheerende Katastrophe seit 1825. Die weitaus meisten Todesopfer – über 300 – gab es auf Grund besonderer topografischer Umstände im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg. Nach den Deichverstärkungen im 19. Jahrhundert hatte man sich an der Küste weitgehend sicher gefühlt. Dabei hatte die Hollandflut 1953 schon ein unübersehbares Warnsignal gesetzt – und tatsächlich begann man anschließend auch in Deutschland, die Deichsicherheit zu verbessern. Umso mehr wirkten die Ereignisse vom Februar 1962 inmitten des westdeutschen „Wirtschaftswunders“ als Schock. Die Februarflut bot jedenfalls wiederum den Anlass, an der gesamten deutschen Nordseeküste eine neuerliche Zäsur im Küstenschutz einzuläuten. Dabei war es vor allem die unerwartete Höhe der aufgelaufenen Fluten, durch die sich die bisherigen Bemessungsgrundlagen für Stärke, Höhe und Profil der Deiche als überholt erwiesen.

Bis heute zeugt die Küstenlandschaft von dieser und den anderen historischen Sturmflutkatastrophen. Unregelmäßige, um Kolke (Ausstrudelungslöcher) herumgeführte Deichlinien dokumentieren, wie sehr überschwemmungen in die Küstentopografie eingegriffen haben. Auch wurden mittlerweile in wachsender Zahl an der Nordseeküste Memorials errichtet, die in unterschiedlicher Form an die historischen Sturmflutkatastrophen erinnern. Meist sind sie an prominenter Stelle in der Nähe von Stränden, Häfen oder Schleusen zu sehen.

So lässt sich die Küstenlandschaft als ein historisches Buch lesen, das es aufzuschlagen gilt. Das todbringende Meer ist seit Jahrhunderten in der Mentalität der Küstenbewohner verankert – verwoben mit der Furcht vor dem frühen Tod im Wasser. Sturmflutkatastrophen, Schiffbrüche und Tod durch Ertrinken gehörten zum Alltag jeder Generation von Küsten- und Inselbewohnern.

Die Erinnerungskultur an der Nordseeküste repräsentiert diese Mentalität, denn die regionalspezifisch-maritime Erfahrung des Todes an der Nordseeküste führte zu einer breitgefächerten Trauerkultur. Bedeutsamstes Zeugnis sind die Grabmäler und Friedhöfe. Ihre Blütezeit erlebte die maritime Sepulkralkultur in der Zeit vom 17. bis 19. Jahrhundert, als insbesondere nord- und ostfriesische Inseln wegen des lukrativen Walfangs eine Periode relativen Wohlstands erlebte. Zur Erinnerung an die teils im Meer gebliebenen Seeleute wurden aufwändige Grabsteine mit kunstvollen Verzierungen und ausführlichen Inschriften errichtet.

Auch Strandungen fremder Schiffe gehörten – vor allem auf den vorgelagerten Inseln – zu einer wiederkehrenden Erfahrung. Strandgut bedeutete ein begehrtes, wenngleich nicht immer legal erworbenes Zusatzeinkommen. Um die angeschwemmten Schiffbrüchigen kümmerte man sich weniger liebevoll. Jedenfalls war es bis weit in die Neuzeit hinein nicht unüblich, die angeschwemmten, meist nicht mehr identifizierbaren Toten höchst provisorisch und ohne Kennzeichnung zu vergraben. Sie galten als „unehrliche“ Tote, denen man kein „christliches“ Begräbnis zubilligte.
Dies jedoch änderte sich im Kontext des sich ausbreitenden Seebäderwesens. Um gegenüber den Badegästen nicht länger unzivilisiert, ja „barbarisch“ zu gelten, richtete man im Verlauf des 19. Jahrhunderts spezielle Friedhöfe für die namenlosen Toten ein – in Westerland auf Sylt beispielsweise im Jahr 1854 (nicht zufällig fast zeitgleich mit der Begründung des örtlichen Seebades). Auf der ostfriesischen Insel Spiekeroog befindet sich eine Gedenkstätte, die an einen der schwerwiegendsten und berühmtesten Schiffbrüche der deutschen Nordseeküste erinnert: die Strandung des Auswandererschiffes “Johanne” am 6. November 1854. Für einen Teil der am Inselstrand angeschwemmten Toten wurde nach dem Unglück eine eigene Begräbnisstätte nahe des Inseldorfes angelegt. Es gab darüber hinaus etliche weitere Namenlosen-Friedhöfe (auch als „Heimatlosen-Friedhöfe“ bezeichnet) an der Nordseeküste und auf den Inseln. Zu den bekanntesten unter den bis heute erhaltenen Begräbnisstätten zählt jene von der nordfriesischen Insel Amrum, die südlich des Inseldorfes Nebel im Jahre 1906 angelegt wurde. Die schlichten Holzkreuze verzeichnen jeweils das Datum des Fundes am Strand.
„Sie geräth in ein Dünental … da liegen die Heimatlosen, die Gestrandeten, die Erschlagenen“ – diese Textpassage aus Theodor Storms Prosafragment „Sylter Novelle“ hatte jedenfalls um 1900 ihre Bedeutung verloren. Die fremden Toten vom Strand erhielten einen besonderen Bestattungsplatz oder wurden auf regulären Friedhöfen beigesetzt. Der pietätvolle Umgang mit den eigenen Toten – geprägt von der jahrhundertealten tragischen Erfahrung der Sturmfluten und Schiffbrüche – hatte sich auf die Fremden übertragen.

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