Sturmflut, Tod und Mentalität an der deutschen Nordseeküste (16.-19. Jh.)


I.

Wie die Geschichte lehrt, haben einzelne, als katastrophal empfundene Ereignisse immer wieder soziale, politische und wirtschaftliche Wandlungsprozesse eingeläutet. Der Schock der Katastrophe schlägt in den Alltag ein „wie ein Blitz in die Dunkelheit“ (RANFT/SELZER). Die Katastrophe offenbart rezente Mentalitätsstrukturen wie auch gesellschaftlich-kulturelle Konflikte und Krisen. Häufig folgte kein Wiederaufbau, sondern ein Neuaufbau. So zeigt sich die Katastrophe als Katalysator des Wandels, indem sie neue Erkenntnisse und Erfahrungen bietet, Lehren ermöglicht, Ordnungsstrukturen verändern kann, aber auch zur Gedächtnis- und Mythenbildung beiträgt.

Dies lässt sich besonders anschaulich am Beispiel der Sturmfluten an der Nordseeküste zeigen. Immer wieder ging es darum, die niedrig gelegenen Küstenmarschen von der „überschwemmung des Wilden See Waßers zu befreyen“ − wie es in einer archivalischen Quelle aus dem frühen 18. Jahrhundert hieß. [1] Wenn die Deiche gebrochen waren, litten die Bewohner der Marschenländer an der Nordsee unter den teilweise dramatischen und tragischen Folgen von Sturmflutkatastrophen. Überschwemmungen haben über Jahrhunderte hinweg die Grenzen zwischen Wasser und Land verändert. Daher gilt die Nordseeküste als Ergebnis einer „besonders riskanten, labilen Balance zwischen menschlichem Handeln ‚an der Natur’ und dem ‚Wirken’ dieser Natur“ (L. FISCHER, 13-14).

Sturmfluten zählen definitorisch zu den Naturkatastrophen. Diese zeichnen sich nach MIKE DAVIES durch geringe Häufigkeit, aber hohe Intensität aus. Vor allem aber sind sie charakterisiert durch ihren besonderen Bezug zu den ökologisch und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vor Ort. Daher müssen Naturkatastrophen „anthropozentrisch“ betrachtet werden, also in ihrem Bezug zum menschlichen Handeln – schließlich ist es nur der Mensch, der Katastrophen kennt, nicht die Natur (DAVIES, 17-18, 27).

Sturmfluten und Deichbrüche fanden frühzeitig Eingang in die zeitgenössische Literatur und Kunst. 1675 publizierte PETRUS HESSELIUS in seinen „Hertzfließende[n] Betrachtungen von dem Elbe-Strom“ einen Stich von Hans Martin Winterstein, der einen Deichbruch darstellt (HESSELIUS 1675). Sturmfluten waren zugleich regelmäßig ein Thema von Predigten von der Kanzel – eine wichtige Quelle für die Historiker. Nicht zuletzt hat das „bedrohliche“ Wasser Eingang in die regionale Erzähl- und Sagenwelt gefunden – wenn etwa nach Anzeichen für eine herannahende Sturmflut gesucht oder spukhafte Gestalten die Katastrophe begleiten wird (RIEKEN, pass.).

Für die Forschung bildete MANFRED JAKUBOWSKI-TIESSENS Habilitationsschrift über die „Weihnachtsflut 1717“ eine grundlegende, sozial- und kulturgeschichtlich orientierte Pionierstudie (JAKUBOWSKI-TIESSENS 1992). In der Regel standen anschließend weiterhin die legendären Sturmflutkatastrophen im Mittelpunkt, neben 1717 etwa die Sturmflut 1634 oder die Februarflut 1825. Neben diesen Ereignissen sollen im Folgenden auch jene kleineren, häufig nur lokal als Katastrophe erfahrenen Sturmfluten untersucht werden, die gleichwohl einiges über alltägliche Erfahrungen und Wahrnehmungsformen vor Ort auszusagen vermögen.

In der historisch-kulturwissenschaftlichen Forschung gibt es nach wie vor unterschiedliche Auffassungen über die Wahrnehmung von Sturmflutkatastrophen in der Neuzeit, insbesondere über die Rolle der Religiosität und des Volksglaubens (JAKUBOWSKI-TIESSEN 2003). Insbesondere ist die Suche nach jenen Indizien, die anzeigen können, wann in der Frühen Neuzeit ein technisch-rationaler Umgang mit der Überflutungsgefahr einsetzte, noch nicht abgeschlossen. Die zeitgenössische Wahrnehmungen von Sturmfluten zeigen sich in ganz unterschiedlichen, teils widersprüchlich nebeneinander existierenden Diskursen. Dies ist in der Regel der jeweils verwendeten Quellen- bzw. Materialgrundlage geschuldet. Die Erfahrung der todbringenden Sturmfluten rief einerseits das Bedürfnis nach Erklärung und Sinndeutung hervor – ein Bedürfnis, das zumeist von den Geistlichen gestillt wurde. Andererseits brachte dieselbe Erfahrung zahlreiche Ansätze alltagspraktischen Handelns hervor, die sich dem Problem jenseits aller fatalistischen Schicksalsgläubigkeit in einem eher technisch-pragmatischen Sinn stellten (RHEINHEIMER 2003).

Vorab zusammengefasst erscheinen zwei Diskursebenen als dominant:

1. Theologische Verkündigung und spiritualistische Deutung:
Hier gilt die Sturmflut als Strafe Gottes und zugleich als „angekündigtes“ Ereignis. Die Akteure sind Geistliche oder andere „Erwählte“, das zu Grunde liegende Quellenmaterial entstammt beispielsweise Predigten, Volksglauben oder autobiografische Ego-Dokumenten;

2. technischer Pragmatismus:
Sturmflut und Deichreparaturen zeigen sich in den archivalischen Quellen als im Prinzip lösbares, naturwissenschaftliches Problem. Die Akteure sind hier die Deichpflichtigen und Aufsichtspersonen (Deichgrafen) vor Ort, auch staatliche Beamte (Wasserbauexperten). Über ihren Umgang mit der Katastrophe geben archivalische Quellen Auskunft, zum Beispiel Bittschriften der Deichpflichtigen oder Gutachten der Wasserbauexperten. Diese Quellengattung vermittelt in der Regel detaillierte Einblicke in Wahrnehmungsformen wie auch alltägliche Lebenswelten der Betroffenen.

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Quellen

[1]
Bericht des Oberdeichgräfen Eibe Siade Johanns vom 8. April 1719, in: Niedersächsisches Staatsarchiv Stade (im folgenden: StA), Rep. 31, Tit. 16p, Nr. 2, Band I. – Der vorliegende Text beruht auf zwei Forschungsprojekten des Landschaftsverbandes Stade e.V., in denen zwischen 2000 und 2007 die Geschichte von Sturmfluten und Deichbau an der Niederelbe untersucht wurde. Daraus gingen folgende Publikationen hervor: Norbert FISCHER: Wassersnot und Marschengesellschaft. Zur Geschichte der Deiche in Kehdingen. Stade 2003 sowie DERS.: Im Antlitz der Nordsee. Zur Geschichte der Deiche in Hadeln. Stade 2007.

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