Deiche oder die Herrschaft über das Wasser:
Zur kulturellen, sozialen und politischen Symbolik der Grenze zwischen Land und Meer

Norbert Fischer

erschienen mit Abbildungen in:
Thomas Hengartner/Johannes Moser (Hrsg.): Grenzen und Differenzen. Vorträge des 35. Deutschen Volkskunde-Kongresses. Dresden 2007, S. 687 – 704

1. Ein Monument am Meer

Am Hadelner Seedeich, wo die Elbe sich zur Nordsee öffnet, steht nahe des Otterndorfer Hafens ein auffälliges Denkmal: Es zeigt drei fast archaisch wirkende Deicharbeiter mit ihren alten, aus vormoderner Zeit stammenden Gerätschaften. Dieses Denkmal symbolisiert die jahrhundertelang eingeübten Arbeitstechniken des Deichbaues und der Deichunterhaltung. Es symbolisiert zugleich jene „Herrschaft über das Wasser“, [1] die so wichtig war für den sozialen und ökonomischen Aufstieg der Nordseemarschen. Das Otterndorfer Denkmal ist nur eines von vielen Beispielen − auch anderen Orts haben die Deiche, wie am Schluss noch ausführlich zu erörtern sein wird, auf diese oder ähnliche Weise ihren Eingang in das kulturelle Gedächtnis der Küste gefunden. [2]

Die gleichsam symbolische Verewigung in Form des Denkmals ist die bisher letzte Etappe in der jahrhundertealten Geschichte der Deiche an der Nordsee. Am Anfang wurde der Deich zum Statussymbol der sich aus dem grundbesitzenden Marschenbauerntum rekrutierenden sozialen Führungsschicht und zum Ausdruck ihrer Hegemonie. Unter räumlichem Aspekt trennte der Deich erstmals die kultivierten Agrarflächen dauerhaft vom Meer und seinen Gezeiten. Als kulturelle Grenze differenzierte der Deich symbolisch das Binnendeichs- vom Außendeichsland und damit „Zivilisation“ von „Wildnis“. Sturmflutkatastrophen und sich verlagernde Strömungen zerstörten immer wieder den Deich – um dem zu begegnen, wurde der Deich durch die Anlage so genannter „Stackwerke“ zur regelrechten Festung ausgebaut. Dennoch zeigt sich der Deich im Verlauf der Geschichte als veränderliche Grenze. Der Verlauf der Deichlinien, die Definition von binnen- und außendeichs unterlag darüber hinaus konkurrierenden gesellschaftlichen und politischen Herrschaftsansprüchen. In den Vor- und Rückdeichungen haben sich die historischen Erfahrungen der Küstengesellschaften materialisiert. So war und ist der Deich viel mehr als nur eine wasserbautechnische Grenze zwischen Land und Meer: Er repräsentiert die symbolisch aufgeladene Strukturierung des Raumes an der Nordseeküste.



Quellen

[1] Gutachten betreffend den Nutzen der Entwässerung des Hadelner Sietlandes vom 1. Dezember 1927 (Auszug), in: Niedersächsisches Landesarchiv/Staatsarchiv (im folgenden NLA/StA) Stade Rep 180 C, Nr. 3216, S. 26.

[2] Zur gesellschaftlich-kulturellen Funktion von öffentlichen Denkmälern innerhalb der Erinnerungs- und Gedächtniskultur vgl. Insa Eschebach, Öffentliches ... .