Norbert Fischer: Deich, Mentalität und regionale Gesellschaft in Kehdingen

5. Eigensinn und regionale Mentalität: Die symbolische Bedeutung der Deichkabeln

Anfang des 19. Jahrhunderts stellte Ernst Wilhelm Gustav Schlüter in seiner Landesbeschreibung einen durchaus "eigensinnigen" Charakter bei den Kehdingern fest: unter anderem einen " ... Hang zur Ueppigkeit" sowie "viel materielle[n] Sinn". "Dabei", so hieß es bei Schlüter weiter, "tritt ein gewisses Phlegma des Charakters bei den meisten Kehdingern hervor. ... Ketzerische und freigeisterische [sic!] Grundsätze äußern sich hin und wieder unverholen. Neben eine[m] gewissen Freiheitssinn, zeigt sich [aber auch] ein starres Festhalten ans Herkommen ..."1

Diese eigensinnige Mentalität der Kehdinger Landbesitzer "von Adel und Hausmannstand2 - und nur um diese ging es in Schlüters Landesbeschreibung - hatte durchaus ihr materielles Fundament. Der regionale Eigensinn wird in einem einzelnen Aspekt gleichsam symbolisiert: in der sog. "Deichkabel", also die dem jeweiligen Landbesitzer zugeordnete und von ihm zu unterhaltende Deichstrecke. In Kehdingen war - wie auch im benachbarten Alten Land, nicht aber im Land Hadeln und Wursten - bis ins 20. Jahrhundert hinein das System der individuellen Kabeldeichung üblich. Dieses System teilte die Deiche in einzelne Kabeln, deren Unterhaltungsrisiko im Normalfall dem jeweiligen Landbesitzer überlassen blieb. Die Deichverbände übten im Prinzip eine bloße Aufsichtsfunktion aus. Die einzelnen Deichabschnitte wurden von den Landbesitzern - und das ist entscheidend - regelrecht als privater Besitz betrachtet.

Mit diesem persönlichen Besitztum am Deich wurde die "hydrografische Gesellschaft2, von der wir eingangs hörten, gleichsam "personalisiert2. Die manchmal nur wenige Meter, häufig auch mehrere hundert oder tausend Meter messenden Deichkabeln wurden zum Symbol persönlichen Prestiges. Jeder einzelne Kabelbesitzer konnte persönlich - über seine eigene Deichstrecke - den Kampf gegen das Wasser führen und das Gefühl erlangen, das Wasser persönlich besiegt zu haben. Dies rief langfristig ein besonderes Selbstbewusstsein hervor, dass wiederum die regionale Mentalität im Land Kehdingen insgesamt prägte.

Damit verbunden war ein Aspekt, der auf den ersten Blick unspektakulär erscheint und dennoch langfristig bedeutsame Folgen nach sich zog: Die Weigerung, Deicharbeiten gegen "baares Geld" vornehmen zu lassen - ein für das System der Kabeldeichung typisches Phänomen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein legten die Kehdinger Landbesitzer Wert darauf, ihre Deichstrecken mit eigenen Arbeitsleuten und eigenen Materialien zu unterhalten - statt sie, wie in vielen anderen Küstenregionen üblich, als Auftragsarbeit an Deichbauunternehmer zu vergeben. Dies wirkte in der Neuzeit, im Kontext zunehmend kapitalisierter Marktverflechtungen, seltsam anachronistisch. Aber gerade hier zeigte sich die über Jahrhunderte tradierte Bedeutung jener Erfahrungen, die im personalisierten Kampf gegen das Wasser gewonnen worden waren - ein Kampf, geführt an der eigenen Deichkabel, mit eigenen Materialien, eigenen Arbeitsleuten, der eigenen Arbeitskraft.2

Diese in der einzelnen Deichkabel symbolisierte Eigensinn widerstand auch vielen jener staatlichen Zentralisierungsbestrebungen, denen das Land Kehdingen in der Neuzeit immer wieder ausgesetzt war - insbesondere seit der Zeit der schwedischen Herrschaft, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die unterschiedlichen Landesteile unter den Vorzeichen des Absolutismus erstmals ansatzweise zu verschmelzen trachtete. Die Schweden waren bemüht, wie Beate-Christine Fiedler schreibt, die "bis 1645 noch nahezu mittelalterlich regierten Bistümer an moderne Verwaltungsprinzipien heranzuführen ...."3 Zahlreiche archivalische Dokumente zeugen von den diversen Versuchen, die relative Autonomie der Landbesitzer und Deichverbände, ja nicht zuletzt das persönliche Besitztum an der Deichkabel einzuschränken. Zunächst geschah dies im 17. Jahrhundert durch die Einsetzung einer staatlichen Oberaufsicht für bestimmte, besonders gefährdete Flussabschnitte. So übernahm nach den Sturmflutkatastrophen 1663/64, die insbesondere bei Hamelwörden schwerste Schäden an den Deichen verursachten, der bützflethische Landesgräfe die Deichaufsicht. Später wurde im bützflethischen, also südlichen Landesteil Kehdingens ein staatlicher "Deichinspektor2 eingesetzt, der die Arbeit der lokalen Deichgräfen kontrollieren sollte. Aber trotz dieser einzelnen Maßnahmen blieb das Deichwesen insgesamt weiter den Landbesitzern überlassen, die einzelnen Deichstrecken in der persönlichen Verantwortung. Selbst die erstmalige Einsetzung eines staatlichen Oberdeichgräfen für die südliche Niederelbe im Jahr 1696 war zunächst kaum mehr als eine Formalie ohne große praktische Folgewirkungen, denn der mit dem Amt betraute Ove Lorentz lebte nicht an der Niederelbe, sondern musste zu seinen Inspektionen von weit jenseits der Flusses aus Eiderstedt auf beschwerlichen Wegen anreisen.

Gleichwohl häuften sich seit dem späten 17. Jahrhundert die Konflikte zwischen den deichpflichtigen Kehdinger Landbesitzern und dem Staat, weil sich die lokale Selbstverwaltung immer massiveren Eingriffen der Obrigkeit ausgesetzt sah. Wie wichtig der staatlichen Obrigkeit gerade das Deichwesen war, zeigte die Tatsache, dass es mit Übernahme der Zentralgewalt durch die hannoversche Regierung 1715 zu jenen Bereichen zählte, die zur Grundlage staatlicher Verwaltungstätigkeit wurden. Dies betraf sowohl die "punctatio" von 1716 als auch die Königliche Instruktion für die Stader Regierung von 1730.4 Auch alle Entscheidungen in "Policey- Teich- [=Deich] und Contributionssachen" behielt sich schon 1720 der Geheime Rat in Hannover vor.5

Im Mittelpunkt der Kritik stand neben bautechnischen Fragen, dass sich die Grenzen und Zuständigkeiten der einzelnen Deichverbände nur unzureichend bestimmen ließen - allzu verworren und nur noch für die Ortsansässigen durchschaubar waren sie. Noch der bereits zitierte Schlüter beklagte in seiner Landesbeschreibung im frühen 19. Jahrhundert die unklaren Grenzziehungen: "Wenn diese Deichgerichte beibehalten werden,2 so forderte Schlüter, sei es "... nothwendig, daß diese Grenzen an Ort und Stelle aufgenommen, von Regierungswegen durch eine durchgreifende Bestimmung ... festgelegt und in eine Zeichnung gebracht werden; ohne dem ist eine deutliche Uebersicht der geographischen Competenzgrenzen und eine gründliche Beseitigung aller künftigen Jurisdictionszwistigkeiten nicht zu erhalten."6

Vor allem gab es aber immer wieder Versuche, das vom Staat als veraltet und ineffizient betrachtete System der individuellen Kabeldeichung abzuschaffen. Damit aber zielte der Staat gleichsam ins "Herz" der regionalen Gesellschaft - symbolisch wie konkret. Bereits die Schweden hatten versucht, die Kehdinger zur moderneren "Kommuniondeichung"7 zu bewegen. Mehrere Jahrzehnte später, unter hannoverscher Herrschaft und nach den Erfahrungen der Weihnachtsflut 1717 mit ihren gerade für Kehdingen verheerenden Folgeschäden, stand die Abschaffung der Kabel- und Einführung der Kommuniondeichung bei den Entwürfen zur neuen Deichordnung von 1743 wiederum zur Debatte, wurde aber von den Landständen abgelehnt. Mitte des 18. Jahrhunderts gab es angesichts weiterer schwerer Sturmflutschäden und der Notwendigkeit der Ufersicherung erneut staatliche Initiativen zur Abschaffung der Kabel- und Einführung der Kommuniondeichung - ein weiteres Mal vergeblich. Selbst nach der Sturmflutkatastrophe von 1825, als die Deichinteressenten allein nicht mehr in der Lage waren, die schweren Schäden zu reparieren, bestanden sie auf dem traditionellen System der privaten Eigenleistung. In einer Petition hieß es von seiten Nordkehdinger Interessenten wörtlich: "Das Auge des Herrn [hier: Landbesitzer] entscheidet hier sehr, Communionarbeit an Deichen wird wie andere Gemeindearbeit, getrieben, mit aller Gemächlichkeit und Langsamkeit und ohne sich um die Güte desjenigen zu bekümmern, was zu Tage gefördert wird; - und alles dies mit einem wenigstens 3fachen Aufwande von Kosten. Wo aber der Herr selbst sein Augenmerk auf die ihm privative zufallende Strecke Deichs zu wenden hat, da geht die Arbeit schnell, weil der Herr seine Knechte und Arbeitsleute im Auge behält und dahin sieht, daß alles mit Ordnung und solide gemacht wird."8 Selbst in schwierigen Zeiten also hielten die Kehdinger Landbesitzer an ihrer Deichkabel, dem "Herz" ihres Selbstverständnisses, unverbrüchlich fest - der hannoverschen Zentralregierung gelang es nur temporär und mit finanziellem Druck, eine gemeinschaftliche Deicharbeit durchzusetzen oder gar als Auftragsarbeit zu vergeben.

Wie stark letztlich die symbolische Kraft der Deichkabel war, erwies sich darin, dass die Abschaffung des Kabelsystems in Kehdingen erst nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogen wurde - als sich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der Region längst gewandelt hatten und das Bewusstsein geschwunden war, einen personalisierten Kampf gegen das Wasser führen zu müssen. Der landwirtschaftliche Grundbesitz hatte einiges - nicht alles - von seiner früheren Bedeutung verloren, die einst festgefügten sozialen Binnenstrukturen waren dank wachsender gesellschaftlicher Mobilität und dank des wirtschaftlichen Strukturwandels weit offener geworden. Und schließlich konnte man sich nach den Deichverstärkungen, die im Anschluss an die Februarkatastrophe 1825 vollzogen wurden, in einer gewissen Sicherheit fühlen - über viele Jahrzehnte hinweg blieb die Niederelbe von schweren Sturmflutkatastrophen verschont. Dass es gleichwohl ein Trugschluss war zu glauben, nach 1825 könnte keine Sturmflut mehr dieses "Land am Fluss" bedrohen, zeigte sich gerade in Kehdingen aufs Neue bei den Sturmfluten der Jahre 1962 und 1976 ...

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