Norbert Fischer: Deich, Mentalität und regionale Gesellschaft in Kehdingen

4. Soziale Hierarchie und politisch-rechtliche Autonomie

Aber die Bedeutung des Deichbaus reichte weit über Landschaftswandel und die Nutzung agrarischer Ressourcen hinaus. Gerade angesichts seiner elementaren Rolle für das Leben und Wirtschaften in der Marsch wurde der Deich zur Grundlage der sozialen Organisationsformen wie auch der regionalen Mentalität: Deichbau, Landbesitz und gesellschaftlich-politische Machtverhältnisse standen in einem Wechselverhältnis zueinander - ja, die Organisation von Deichbau und Deichunterhaltung war konstitutiv für Gesellschaft, Politik und regionale Mentalität an der Niederelbe.

In Kehdingen wurde das Deichwesen von den sog. Schauungen getragen, wie die Deichverbände hier genannt wurden. Sie hatten sich im Rahmen der im hohen Mittelalter begonnenen und sukzessive fortschreitenden Anlage der Deiche in Kehdingen entwickelt. Die Flächen dieser Schauungen waren unterschiedlich groß, ihre Aufteilung änderte sich im Lauf der Geschichte gelegentlich. In Nordkehdingen gab es mehrere kleinere Schauungen, im südlichen, bützflethschen Landesteil im wesentlichen zwei große Schauungen. Ihnen standen jeweils die "Deichgräfen" vor - Titel und Funktion wurden übrigens teilweise als Lehen vergeben. In genau reglementierten Ritualen überprüften die Deichgräfen in ihren Schauungen den Zustand der einzelnen Deichstrecken in Kehdingen, ordneten Instandsetzungen an und verhängten Strafen. Den Deichgerichten war eigen, dass Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hatten und dass es auch keine Befreiung von ihnen gab - also auch adelige Grundbesitzer ihrem Spruch Folge zu leisten hatten.1 Aber die Bedeutung dieser Deichgerichte ging noch über den Deich hinaus. Als die Stader Regierung Ende des 17. Jahrhunderts aus Kehdingen eine Übersicht zum Deichwesen anforderte, wurde in den aktenmäßig überlieferten Berichten deutlich, dass die einzelnen Deichgerichte auch Zuständigkeiten in der unteren Gerichtsbarkeit hatten.2 Auf dieser sozial konstitutiven Rolle der Deichgerichte basierte jene weitgehend selbständige Landes- und Gerichtsverfassung, die sich in Kehdingen − wie auch in vielen anderen Marschendistrikten an der Nordsee − seit dem Mittelalter herausgebildet hatte und verhinderte, dass sich die klassische Feudalisierung durchsetzen konnte.3 Sie hielt sich neben der jeweiligen Landesherrschaft teilweise bis ins 19. Jahrhundert.

Folgerichtig entstand in Kehdingen eine starke regionale Binnenintegrität. Das "Land am Fluss" stellte über Jahrhunderte hinweg eine relativ geschlossene politische, gesellschaftliche und rechtliche Einheit dar. Wie andere Küstenlandschaften an der Nordsee bildete es "eine Art von Freiraum2, der − wie Otto Knottnerus schrieb − "seine Eigenart, trotz staatlichem und marktwirtschaftlichem Eingreifen, bis weit in die moderne Zeit bewahren konnte."4 Eine bedeutsame Rolle spielte in Kehdingen dabei die Existenz zahlreicher, oft über Generationen hinweg in Familienbesitz befindlicher Rittergüter und das aristokratische Selbstverständnis ihrer Besitzer. Die Ritterschaft, also der aristokratische "Marschenadel", hatte im Land Kehdingen eine größere Bedeutung als in den benachbarten Marschen. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts machten seine "adelig-freien" Besitztümer rund ein Drittel der gesamten Landesfläche aus,5 zeitlich spätere Schätzungen gehen für das 17. Jahrhundert immerhin noch von einem Viertel aus.6 Zudem lässt sich das besondere Selbstbewusstsein des Marschenadels auf die soziale Genese des ritterschaftlichen Besitzes zurückführen: Ihr Eigentum beruhte nicht auf Lehen, sondern auf Vererbung und Veräußerung.7 Die zahlreichen Rittergüter in Kehdingen waren von der Gerichtsbarkeit der staatlich legitimierten Landesgräfen, also der "Verwaltungsbeamten", befreit. "Es gab mithin2, so schreibt Volker Drecktrah in seiner jüngst erschienenen Dissertation zur Rechtsgeschichte im Herzogtum Bremen, "eine erhebliche Zahl von Bewohnern dieses Landes [Kehdingen], die den Gräfen weder in Verwaltungs- noch in Justizangelegenheiten unterstanden.28 Diese Sonderrechte behielt der Kehdinger Marschenadel bis ins 19. Jahrhundert hinein.9

Bäuerliche Leibeigenschaft oder andere Formen weitgehender rechtlicher Abhängigkeit gab es nicht. Die sozialen Unterschiede zwischen dem ländlichen Ritteradel (Marschenadel) und jenen freien Bauern, deren Schicht in Kehdingen als Hausmannstand bezeichnet wurde, waren schwächer ausgeprägt als anderswo (ohne die existierenden adligen Privilegien sowie die vorhandenen Interessenunterschiede in Abrede stellen zu wollen). Bis weit in die Neuzeit hinein erhielten sich praktizierte Formen politischer Selbstbestimmung der landbesitzenden Schichten, die auf der Basis von Bauerschafts-, Kirchspiels- oder Landesversammlungen beruhten.

Andererseits zog die über Jahrhunderte festgefügte gesellschaftliche Binnenstruktur negative Folgen für die Innovationsbereitschaft nach sich. Dies wurde beispielsweise in der Schwedenzeit, also in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, deutlich. Das Herzogtum Bremen galt damals als Pionier in Sachen Militärtechnik, vor allem beim Schanzen- und Festungsbau. Letzteres war dem Deich- und Schleusenbau eng verwandt, immer wieder wurden Militäringenieure auch im Deichbau eingesetzt. Im Land Kehdingen jedoch erwiesen - trotz der räumlichen Nähe innovativer Bautechnik und kompetenten Personals - die Deichbau- und Deichsicherungsmethoden als vergleichsweise veraltet. Lediglich in Katastrophenzeiten, wie nach der Sturmflutserie 1663/64 im Raum Hamelwörden/Wischhafen, wurden Militäringenieure von der Stader Regierung zur Deichreparatur gesandt − im übrigen zeigten die Deichpflichtigen wenig Interesse an deren Fachwissen. Auch sonst wurden neue Deichtechniken, zum Beispiel Stackwerke zur Ufersicherung, nur zögernd und widerwillig übernommen - und meist nur unter staatlichem Druck.

Auch ein bedeutsames Beispiel aus der Entwässerungstechnik belegt die verbreitete Innovationsfeindlichkeit in den Stader Elbmarschen: Die im Hamburger Umland im 18. Jahrhundert gebauten Wasserschöpfmühlen verbesserten die Ertragsmöglichkeiten der Marschböden durch eine effizientere Entwässerung. In den Jahren 1792/93 gab es im "Neuen Hannoverschen Magazin" - einem aufklärerischen Periodikum - eine Debatte um die Einführung von windgetriebenen Entwässerungsmühlen auch an der Niederelbe. Der Hamburger Professor Johann Georg Büsch - Mitbegründer der Patriotischen Gesellschaft - sprach sich für den Einsatz von Schöpfmühlen an der Niederelbe aus - eben wegen ihrer Effizienz und Wirtschaftlichkeit. Dagegen verwies der niederelbische Oberdeichgräfe Samuel Benzler in seinem Beitrag auf die hohen Kosten und pries die Möglichkeiten des konventionellen Entwässerungssystems mit seinen Gräben und Sielen.10

Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Die aus dem Deichbau resultierende und auf andere Bereiche ausstrahlende politisch-gesellschaftliche Autonomie bildete eine entscheidende Kompenente der regionalen Mentalität im Lande Kehdingen. Was über die hydrografische Gesellschaft der Niederlande geschrieben wurde, gilt daher in gewissem Sinne auch hier an der Niederelbe: Zwar wirkten die Sturmfluten auf der einen Seite bedrohlich, auf der anderen aber auch gesellschaftlich "befreiend". Wenn sich die sozialen Verhaltensnormen "aus der wechselnden Gewährleistung physischer Sicherheit" ergaben, dann waren es hier, in den Elbmarschen, die Deichverbände, die sie garantierten - mehr als jeder Landesherr, als jeder Obrigkeitsstaat.11 Die Marschengesellschaft Kehdingens jedenfalls war durch eine ganz besondere Mischung aus aristokratischem Besitz- und Herrschaftsdenken einerseits und Formen praktizierter Selbstverwaltung bei den Deichverbänden andererseits gekennzeichnet. Bis weit in die Moderne hinein überdauerten Verwaltungsstrukturen und Rechtsprinzipien, die immer noch Charakteristika eines "mittelalterlichen Gemeinwesens" trugen12 - und es nicht selten erschwerten, technische und gesellschaftliche Innovationen durchzusetzen.

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