Norbert Fischer: Deich, Mentalität und regionale Gesellschaft in Kehdingen

2. Die "hydrografische Gesellschaft"

Eine Regionalgeschichte der Niederelbe erfordert interdisziplinäre Zugriffe - nur so lassen sich jene Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft, Technik, Gesellschaft und Politik, Kultur und Mentalität erfassen, die die Flusslandschaft geformt haben. Richard Linde unternahm mit seinem berühmten Niederelbe-Buch von 1908 einen frühen Versuch, den Fluss in einer wissenschaftlichen, wenngleich zeitgefärbt-kulturkonservativen Synthese darzustellen. Natur und Landschaft, Kultur und Brauchtum, Handel und Verkehr, Agrarwirtschaft und Industrie wurden einbezogen. Linde erfaßte die städtischen Siedlungen ebenso wie die "elementare Natur" und - so seine gemeinschaftstümelnde Diktion - das "urwüchsige Volkstum" an der Niederelbe.1 Vor allem aber ist Lindes Buch eine Geschichte der Bändigung der Elbe. "Seit alters her", so schreibt er, "überlistet hier der Mensch das Element, gräbt ihm ein Bett, wo es fließen soll, dämmt es ab, wo es weichen soll, bändigt es zwischen hohen Deichen, baut ihm Tore, die es selber öffnen und schließen muß ... und verlockt es durch kluge Berechnung, immer neues Land zu bilden."2 Auch Hermann Poppes Kulturgeschichte des Landes Kehdingen, die 1924 erschien, vermittelt etwas von dieser überragenden Bedeutung des Wassers für die Elbmarschen - und sei es das folkloristische Beispiel, dass die breiten Entwässerungsgräben im Winter für den Volkssport des Schlittschuhlaufens genutzt wurden ... .3

Bereits die geografische Lage dokumentiert die Probleme im Umgang mit dem Wasser. Der zur Elbe hin gelegene aufgeschlickte Uferstreifen, das sog. "Hochland", wird von der Geest durch das nur um weniges niedriger gelegene "Sietland" und durch einen wiederum höheren, ursprünglich schwer passierbaren Moorstreifen getrennt. Aufgrund dieser Höhenunterschiede innerhalb der Marsch musste nicht nur gegen die vom Fluss kommenden Gezeiten gedeicht werden, sondern auch binnenwärts, um das von Moor und Geest, gleichsam im Rücken, ablaufende Wasser abzuhalten. So waren in Kehdingen neben den Hauptdeichen an der Elbe auch so genannte Kaje- oder Hinterdeiche notwendig - ganz zu schweigen von der unabdingbaren Bedeichung der tideabhängigen Nebenflüsse wie Oste und Schwinge, die das Marschenland ebenfalls bedrohten.

Die Auseinandersetzung mit dem Wasser wurde in Kehdingen zum entscheidenden Faktor der regionalen Gesellschaft. Daher kann man in Kehdingen von einer "hydrografischen Gesellschaft" sprechen - im Sinne Simon Schamas, der den Begriff auf die Niederlande des 17. Jahrhunderts anwandte.4 Hydrografische Gesellschaften definieren sich über die Auseinandersetzung mit dem Wasser: der Schutz vor den Gezeiten und Sturmfluten einerseits, die Entwässerung andererseits. Das wichtigste Symbol dieser Auseinandersetzung mit dem Wasser ist der Deich. Die Eindeichungen bildeten das wichtigste Stadium in der Ausprägung der heutigen Marschenlandschaft, denn erst sie ermöglichten eine intensivere Besiedlung und Bewirtschaftung. Die Deiche zogen eine vorläufige Grenze zwischen Fluss und Marschenlandschaft, und das System der Entwässerungsgräben sorgte für eine neuartige, bis heute prägende Flurgliederung.5

Aber auch nach den ersten, im hohen Mittelalter begonnenen Eindeichungen hat sich die Flusslandschaft, hat sich die Grenze zwischen Wasser und Land, immer wieder gewandelt. Nehmen wir einige Beispiele: Der starke Uferabbruch in Südkehdingen forderte Rückdeichungen heraus, bisweilen mussten ganze Orte aufgegeben werden. Umgekehrt verbreiterte sich die Fläche Nordkehdingens durch anhaltende Aufschlickungen des Elbufers um einige Kilometer. Was zunächst Außendeichsland war, wurde im 19. Jahrhundert mit Sommerdeichen und im späten 20. Jahrhundert mit einem neuen Landesschutzdeich versehen - damit wurden Flächen von mehreren tausend Hektar neu eingedeicht. Auch die Kehdingen vorgelagerten Elbinseln (Sände) unterlagen dem Landschaftswandel. Wie die einstige Elbinsel Krautsand, deren auf Wurten gelegene Anwesen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein den Sturmfluten ausgesetzt waren, sind auch andere Sände erst vor wenigen Jahrzehnten eingedeicht und damit zum "Festland" geworden.

Der Deichbau beeinflusste nicht nur die Flur-, sondern auch die Siedlungsstrukturen. Zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert, so schreibt Gerhard Kaufmann, "entstanden ... jene oft außerordentlich langgestreckten Marschhufendörfer mit beetartiger Streifenflur, die für die Elbmarschen bis heute typisch geblieben sind. Direkt hinter den Deichen ... lagen die Höfe in einer Zeile auf der deichabgewandten Seite. Erst später bebauten Deicharbeiter, Fischer, Schiffer und andere 'kleine Leute' ohne wesentlichen Landbesitz auch den Deich selbst auf der Innenseite."6

Vor allem aber hat es bis in die Gegenwart hinein immer wieder schwere und schwerste Schäden durch die Sturmflutkatastrophen gegeben. Die Sturmflutkatastrophen gehören zu jenen traumatischen Erfahrungen, die bis weit in die Neuzeit hinein fast jede Generation durchlebte.7 Über viele Epochen hinweg ist gültig geblieben, was ein Dokument aus dem Kehdingen der 1830er Jahren wie folgt ausdrückte: "Der Ackerbau ist im Kehdingschen wegen der großen Cultur-Kosten bekanntlich mit vielen Schwierigkeiten und großen Anstrengungen verbunden. Eine Fluth entreißt uns häufig innerhalb einiger Stunden unsere schönsten Hoffnungen"8.

Zugleich haben die Sturmfluten die Landschaft der Elbmarschen immer wieder verändert. Noch heute sind viele jener Orte in der Landschaft erkennbar, die von einem Deichbruch betroffen waren. Sie zeigen sich beispielsweise durch Krümmungen in der Deichlinie, die durch durch die Umdeichungen von "Kuhlen" entstanden. "Kuhlen" ist der Kehdinger Ausdruck für jene tiefen, nicht mehr durchdeichbaren Ausstrudelungslöcher, die durch die den Deich durchbrechenden Fluten in den Boden gerissen wurden und in anderen Küstenregionen als Bracks, Wehlen oder Kolke bezeichnet werden. Auch diese Kuhlen sind häufig in der Marschenlandschaft erhalten geblieben - von ihnen handelte das Eingangszitat.

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