3. Der Deich als gesellschaftliches Status-Symbol

Diese Art und Weise, die räumliche Struktur der Küste zu determinieren, sollte weitreichende Folgen für die symbolische Funktion des Deiches haben. Der Begriff „Symbol“ wird hier mit Rudolf Schlögl verstanden als Bedeutungsträger sowohl für die Hervorbringung als auch die Rahmung von kulturell-gesellschaftlichen Ordnungsmustern. [10] Exakt diese Funktion erfüllte der Deich: Für Jahrhunderte wurde er zum Status- und Machtsymbol der sich aus dem grundbesitzenden Marschenbauerntum rekrutierenden sozialen Führungsschicht, zum Ausdruck ihrer Hegemonie in den Küstengesellschaften an der Nordsee. Die Zusammensetzung dieser ländlichen Oligarchie im Einzelnen konnte von Region zu Region durchaus verschieden sein: bisweilen wohlhabende Landadelige mit generationenweise in Familienbesitz befindlichen Gütern, die nicht selten Hunderte von Hektar umfassten − in anderen Fällen freie Bauern, die durch Landzukauf oder neue Eindeichungen wirtschaftlich aufsteigen konnten. Häufig zeigte sich die Oligarchie als Mischung zwischen beiden Gruppierungen. Dies galt dann, wenn – wie im Land Kehdingen − die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen dem alteingesessenen Marschenadel und den freien Bauern eher schwach ausgeprägt waren. [11] Kennzeichnend für diese Oligarchie war ihre relative, bis weit in die Neuzeit hineinreichende Unabhängigkeit von den jeweiligen Territorialherrschaften, oder, umgekehrt gesagt, ein hohes Maß an politisch-gesellschaftlicher Selbstverwaltung.

Ihren institutionellen Ausdruck fand diese Unabhängigkeit − wie auch die hegemoniale Stellung der ländlichen Führungsschicht − in den Deichverbänden. Die Bedeutung der Deichverbände resultierte nicht zuletzt aus der Notwendigkeit, die einmal gebauten Deiche zu unterhalten und gegebenenfalls zu reparieren. Wegen ihrer existentiellen Bedeutung bildeten die Deichverbände seit dem hohen Mittelalter die Basis der gesellschaftlich-politischen Binnenstrukturen in den Küstengesellschaften an der Nordseeküste. Auch sie wurden von den Marschenbauern dominiert, denn nur wer eine Mindestfläche an Grund und Boden sein Eigen nennen konnte, gehörte zum Deichverband. So repräsentierte der Deichverband die soziale und ökonomische Elite der Küste. Der seit Theodor Storms Novelle „Der Schimmelreiter“ [12] legendäre Deichgraf, also der Vorsitzende des Verbandes, war in der Regel ein Großbauer. Einfache Arbeitsleute ohne oder arme Häusler mit nur wenig Landbesitz blieben vor der Tür. [13] In einigen Küstenregionen − dort, wo das Prinzip der Kabeldeichung vorherrschte [14] − war der Landeigentümer persönlich für seinen Deichabschnitt verantwortlich und betrachtete den Deich als seinen privaten Besitz.

Andererseits waren es gerade die von den Marschenbauern dominierten Deichverbände, die – vor allem in Krisenzeiten, nach Sturmflutkatastrophen − gern das Leitbild vom „Deich als Gemeinschaftswerk“, als Werk der gesamten Küstenbewohner propagierten. Dieses Postulat ermöglichte ihnen, die Kosten zum Schutz ihrer Agrarflächen auf möglichst viele Köpfe zu verteilen, obwohl die Unterhaltung des Seedeiches in erster Linie ihren neu eingedeichten Flächen zu Gute kam. Ältere, aufgeschlickte und damit höher gelegene Marschenflächen hingegen lagen häufig auch ohne Seedeich noch relativ überschwemmungssicher, zum Beispiel im Schutz alter Kirchspielsdeiche um Wurtensiedlungen. Dennoch mussten auch deren Eigentümer zum Unterhalt des Seedeiches beitragen. So erwies sich die − später zum Mythos verklärte − Propagierung des Deiches als „Gemeinschaftswerk“ als treffliches Mittel, privaten Eigennutz zum gleichsam öffentlichen Interesse zu stilisieren.

Diese soziokulturelle Hegemonie der Marschenbauern – und damit die Symbolkraft des Deiches − fand ihren Höhepunkt in den Agrarkonjunkturen der Frühen Neuzeit. Zwischen dem 16.und 18. Jahrhundert wurden großflächige Eindeichungen realisiert, um die profitablen Nutzflächen in den Nordseemarschen weiter auszudehnen. [15] Die neuen, weit vorgeschobenen Deiche wurden höher – im 18. Jahrhundert maßen sie oft fünf und mehr Meter. Wichtiger noch: Die Deiche wurden an ihrem Fuß erheblich breiter und damit stärker, um die gefürchteten Grundbrüche zu verhindern. Die Organisation dieser Eindeichungsprojekte war bisweilen geradezu frühkapitalistisch: Hier entfaltete sich ein eigenes Deichbau-Unternehmertum, das mit Tausenden von Arbeitskräften die Landgewinnungsprojekte generalstabsmäßig realisierte. Ein Pionier des kommerziellen Deichbaus war der Niederländer Jan Claesz. Rolwaghen aus Alkmaar. Er leitete im frühen 17. Jahrhundert Großprojekte in Ostfriesland, Eiderstedt und Cuxhaven. [16] Diese Landgewinnungsmaßnahmen, an denen die Obrigkeit in Erwartung steigender Steuereinnahmen interessiert war, festigten die soziale Vorherrschaft der agrarischen Führungsschicht.



Quellen

[10] Rudolf Schlögl, Symbole in der Kommunikation. Zur Einführung, in: Ders./Bernhard Giesen/Jürgen Osterhammel (Hg.), Die Wirklichkeit der Symbole. Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften, Konstanz 2004, S. 9 – 38, hier S. 9 und 12. − Zur Unterscheidung von Zeichen und Symbol greift Schlögl auf Soeffner zurück, wenn er schreibt: „Symbole führen hingegen eine je besondere Perspektivierung mit sich, mit der sie dann aus den miteinander verbundenen Bedeutungselementen ein eigenständiges Wirklichkeitsgefüge aufspannen. Sie legen selbst Relationierungen fest.“ Ebd., S. 16.

[11] Adolf Hofmeister, Adel, Bauern und Stände, in: Hofmeister, Adolf E.: Adel, Bauern und Stände, in: Hans-Eckhard Dannenberg/Heinz-Joachim Schulze (Hrsg.), Geschichte des Landes zwischen Elbe und Weser, Band II: Mittelalter, Stade 1995, S. 195 – 240, hier S. 196 und S. 198.

[12] Reimer Kay Holander, Der Schimmelreiter – Dichtung und Wirklichkeit. Kommentar und Dokumentation zur Novelle „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm. Neue, verbesserte und aktualisierte Ausgabe, Bredstedt 2003.

[13] Zu einer Fallstudie über sozialgeschichtliche Zusammenhänge von Marschenbauerntum, Deichbau und Deichverbänden vgl. Norbert Fischer, Wassersnot und Marschengesellschaft. Zur Geschichte der Deiche in Kehdingen, Stade 2003.

[14] Bei der Kabeldeichung (auch als „Pfanddeichung“ bekannt) handelte es sich um eine der beiden wichtigsten Systeme der Deichwirtschaft an der Nordseeküste – das Pendant wurde als Kommuniondeichung bezeichnet. Beim System der Kabeldeichung wurde der Deich in einzelne Teilstrecken aufgeteilt („Kabeln“). Diese maßen manchmal nur wenige Meter, manchmal mehrere hundert oder gar tausend Meter. Sie befanden sich in Obhut der deichpflichtigen Landbesitzer (Interessenten), denen sowohl Unterhaltung als auch Nutzung oblag; Rolf Uphoff, Die Deicher, Oldenburg 1995, S. 57 – 68.

[15] Besonders in solchen Fällen, wo die lokalen Ressourcen nicht ausreichten, „… Neueindeichungen mit Hilfe des traditionell vorhandenen Arbeitskräfteaufgebots durchzuführen, wurden auswärtige Investoren eingeschaltet, die im Tausch für ihre Leistungen einen Teil des neu gewonnenen Landes als Eigentum zugewiesen bekamen.“ Knottnerus, Deich- und Sielbautechniken (wie Anm. 7), S. 165.

[16] Knottnerus, Deich- und Sielbautechniken (wie Anm. 7), S. 166.