2. Das Primat der Agrarökonomie

Was sind und wozu braucht man Deiche? Die Antwort scheint banal: Deiche sind fest aufgeschichtete, zweckentsprechend geformte und aus Erdbaumaterialien bestehende Dämme. [3] Sie trennen an der deutschen Nordseeküste – und um diese geht es im Folgenden – das Land vom Meer. Entgegen landläufigen Mythen wurden die frühen Deiche nicht in erster Linie gebaut, um die Küstenbewohner vor dem Meer zu schützen. Vielmehr basierte der frühe Deichbau auf agrarökonomischer Rationalität. Diese Deiche, so die Auffassung neuerer küstenarchäologischer Forschungen, [4] dienten der Intensivierung und Ausdehnung landwirtschaftlicher Nutzflächen in den äußerst fruchtbaren Nordseemarschen. Sie ermöglichten die ganzjährige Bewirtschaftung mit salzresistenten Nutzpflanzen wie Hafer, Roggen oder Ackerbohnen.

Gegenüber den Fluten aber hatte sich die Küstenbevölkerung schon zuvor geschützt. Bereits vor dem Beginn christlicher Zeitrechnung waren sturmflutsichere Wurten bekannt (regional unterschiedlich auch als Warften oder Warfen bezeichnet), also künstlich aufgeschichtete, mehrere Meter hohe Anhöhen, die ganze Siedlungen aufnehmen konnten. Zunächst wurden die agrarischen Nutzflächen um diese Wurten durch Ringdeiche ausgedehnt, bevor – regional unterschiedlich, im Prinzip aber seit dem 11. Jahrhundert – die ersten Seedeiche entstanden, die sich noch im hohen Mittelalter zu einer geschlossenen seewärtigen Deichlinie zusammenfügten. [5] Dass diese mittelalterlichen Seedeiche nur bedingt dem Schutz menschlicher Siedlung dienen konnten, zeigt bereits ihre geringe Höhe von ein bis zwei Metern. Eben wegen dieses Mankos wurden umgekehrt noch im weiteren Verlauf des Mittelalters die Wurten erhöht. [6]

Die Entscheidung zum Deichbau an der Nordsee war also „keine zwingend notwendige Reaktion auf naturräumliche Bedingungen“. [7] Sie bildete lediglich eine von mehreren Optionen, an der Küste zu wirtschaften, zu arbeiten und zu leben. Aber man entschied mit dem Deichbau, auf welche Art und Weise der „amphibische“ Lebensraum genutzt werden sollte: nämlich im Interesse einer intensivierten Landwirtschaft und des grundbesitzenden Marschenbauerntums. Gegenüber der Wurtensiedlung war der Deichbau die zwar riskantere, aber ökonomisch lukrativere Option – weil er die Räume öffnete.

Nachteilig jedoch war der Deichbau für Küstenfischerei und Handel, denn er beschnitt den Kähnen, Booten und Schiffen den freien Zugang zum Meer. Außerdem unterband der Deich den natürlichen Lauf der Entwässerung. Aus diesen Gründen mussten Siele bzw. Schleusen − die Bezeichnungen sind regional unterschiedlich − in den Deich gelegt und künstliche Entwässerungsgräben ausgehoben werden. [8] Jenes „weiche“ Wechselspiel der Gezeiten also, das noch im Zeitalter der Wurten im amphibischen Raum vorgeherrscht hatte und bei dem die Flut in den Prielen ungehindert ein- und ausströmen konnte, wurde aufgegeben zugunsten einer artifiziellen Grenze. So zeigte sich der Deich auch als Entscheidung gegen den Rhythmus der Gezeiten, umgekehrt ausgedrückt: als Symbol der Herrschaft über das Wasser. Insgesamt entstand durch den Deichbau an der Nordseeküste ein neu strukturierter Raum, urteilt der Küstenarchäologe Dries Tys, „in der die Ordnungsprinzipien der Machthaber … so eng an die Umweltbedingungen geknüpft waren, dass diese schon deshalb von den Bewohnern akzeptiert werden mussten, ohne auch nur bewusst reflektieren zu können, ob die Verhältnisse nicht auch anders sein könnten.“ [9]



Quellen

[3] Zur Definition und als knappen Abriss zur Geschichte siehe Norbert Fischer, Stw. Deich, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Band 2, Stuttgart 2005 (im Druck).

[4] Dries Tys, Landscape, settlement and dike building in coastal Flandes in relation to the political strategy of the counts of Flanders, 900 – 1200, in: Kulturlandschaft Marsch. Natur – Geschichte – Gegenwart. Vorträge anlässlich des Symposiums in Oldenburg vom 3. bis 5. Juni 2004, Oldenburg 2005, S. 106 – 126, hier S. 122. – Auch Jos Bazelmans sieht in dem von ihm erkannten kleinmaßstäblichen Dämmen aus der Zeit um Christi Geburt keinen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Schutz von Siedlungen. Stattdessen könnten sie dem Schutz der Äcker gdient haben, während die Menschen auf Wurten siedelten; Jos Bazelmans, Die Wurten von Dongjum-Heringa, Peins-Oost und Wijnaldum-Tjitsma: kleinmaßstäblicher Deichbau in ur- und frühgeschichtlicher Zeit des nördlichen Westergo, in: ebd., S. 69 und S. 79. – Zur Wurten-, Deich- und Siedlungsgeschichte siehe auch die anderem küstenarchäologischen Beiträge in dem genannten Band, der den aktuellen Forschungsstand repräsentiert − für die deutsche Nordseeküste vor allem Johannes Ey, Früher Deich- und Sielbau im niedersächsischen Küstengebiet, ebd., S. 127 – 132 sowie Dirk Meier, Untersuchungen zum frühen Deichbau in Schleswig-Holstein und Dänemark, ebd., S. 133 – 147.

[5] Für die deutsche Nordseeküste siehe neuerdings und summarisch Ey, Deich- und Sielbau, (wie Anm. 3) und Meier, Untersuchungen, (wie Anm. 3); als Überblick zu Schleswig-Holstein vgl. Hans Joachim Kühn, Die Anfänge des Deichbaues in Schleswig-Holstein, Heide 1992.

[6] Diese mittelalterlichen Deiche heißen im Fachjargon „Überlauf-Deiche“ – es war durchaus erwünscht, dass sie gelegentlich überspült wurden, denn dadurch wurde der Marschenboden gleichsam natürlich gedüngt. – Das Beispiel der Wurtenerhöhung bezieht sich auf die Niederlande.

[7] Tys, Landscape (wie Anm. 3), S. 122.

[8] Die ältesten bekannten Siele waren geschlossene Holzbauwerke mit kleinen Durchlässen, in denen frei pendelnde Holzklappen aufgehängt wurden. Im Verlauf der Neuzeit wurden die Siele bzw. Schleusen zunehmend mit Stein statt Holz gebaut, ihre lichten Öffnungen wurden weiter; Otto Samuel Knottnerus, Die Verbreitung neuer Deich- und Sielbautechniken entlang der südlichen Nordseeküste im 16. und 17. Jahrhundert, in: Kulturlandschaft Marsch (wie Anm. 3), S. 161 – 167.

[9] Tys, Landscape (wie Anm. 3), S. 122.