Die modellierte Region: Stormarn seit dem Zweiten Weltkrieg
Von Norbert Fischer (Universität Hamburg)

3. Strukturwandel und Topographie

Die Antwort auf diese Probleme war ein ungewöhnlich rascher Strukturwandel: Aus dem agrarischen Stormarn ist seit Ende der fünfziger Jahre eine gewerblich-industrielle Wachstumsregion geworden. Zu den wichtigsten Katalysatoren dieser Entwicklung zählt die 1957 vom Kreis gegründete Wirtschafts- und Aufbaugesellschaft (WAS). Nachdem es in den Sitzungen des Kreisausschusses Mitte der fünfziger Jahre kontroverse Diskussionen über die formale Ausgestaltung der Wirtschaftsförderung gegeben hatte, entschloß man sich schließlich zur Gründung einer GmbH. Als eine der frühen Wirtschaftsförderungsgesellschaften in der Bundesrepublik betrieb die WAS ab 1957 eine gezielte Industrieansiedelungspolitik, die über die kommunalen Einzelinteressen hinaus die Entwicklung Stormarns insgesamt im Auge hatte. Der damalige Stormarner Landrat Klaus von der Groeben berichtet in seinen Erinnerungen, daß diese Politik auch Widerstände hervorrief: "Gehörte Industrie überhaupt auf das Land?" - so sei er immer wieder gefragt worden. Aber das Hauptziel, also das Interesse an neuen Arbeitsplätzen und Steuereinnahmen, siegte über alle Widerstände.

Von Vorteil war sicherlich, daß Stormarn über die damals einzige Autobahn in Schleswig-Holstein verfügte (A 1 Hamburg-Lübeck). Hinzu kam die im Dezember 1958 eingeweihte Bundesstraße 404 - diese zunächst "Nordsüdstraße" genannte neue Fernverkehrsachse verband Stormarn mit dem Kieler Raum. Anfangs bis zur Kreuzung mit der A 1 bei Hammoor gebaut, erreichte die Schnellstraße Mitte der sechziger Jahre den Raum um Lütjensee in der "Stormarner Schweiz" und wurde später über Schwarzenbek und die Geesthachter Elbbrücke bis nach Niedersachsen verlängert. Die B 404 galt seinerzeit in Schleswig-Holstein, wie es seitens der Kieler Landesregierung hieß, als größte und wichtigste neue Verkehrsverbindung seit Ende des Zweiten Weltkrieges.

Der in den späten fünfziger Jahren einsetzende Strukturwandel kann hier nur anhand weniger Beispiele und Daten skizziert werden. Das erste von der WAS erschlossene Gewerbegebiet war der "Küchenberg" in Harksheide (das damals noch zu Stormarn gehörte). 1958 war bereits die Mehrzahl der Grundstücke verkauft. In den Jahren 1959/60 wurde mit dem großen, gemeindeübergreifenden Gewerbegebiet Reinbek/Glinde/Schönningstedt begonnen. In Bargteheide wurden ab 1960 Gewerbeflächen angelegt, in Bad Oldesloe ab 1964. Ahrensburg gehörte ebenso zum Tätigkeitsfeld der WAS wie Trittau und Reinfeld. Dabei waren es nicht Betriebe der Großindustrie, die angesiedelt wurden, sondern in der Regel klein- und mittelständische Unternehmen.

Bis Mitte der siebziger Jahre konnte die WAS über 200 Unternehmen mit über 20 000 Arbeitsplätzen ansiedeln. Genutzt wurden dabei die Standortvorteile gegenüber Hamburg, insbesondere auch der Vorrat an relativ preisgünstigen Gewerbeflächen (deren jeweilige Erweiterung hier im übrigen unproblematischer als in der Metropole waren).

Wie aus dem ersten Raumordnungsbericht der Kieler Landesregierung hervorgeht, zählte Stormarn schon Mitte der sechziger Jahre zu den schleswig-holsteinischen Landkreisen mit einem mittleren Industrialisierungsgrad und - neben Pinneberg und Steinburg - zu den drei Kreisen mit stark steigender Industrialisierungstendenz. In der Tat setzte sich diese Entwicklung fort, wie folgender Vergleich belegt: Zwischen 1950 und 1970 erhöhte sich der Industriebesatz in Stormarn, also die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe je 1000 Einwohner, von 19,1 auf 89,0 - was sowohl bezogen auf den Industrie- und Handelskammerbezirk Lübeck als auch bezogen auf ganz Schleswig-Holstein eine stark überproportionale Steigerung bedeutete. Von besonderer Bedeutung war, daß sich das Gewerbesteueraufkommen im Kreis zwischen 1957 und 1975 um 631% erhöhte.

Dieser Strukturwandel veränderte das Landschaftsbild - Stormarns Topographie wandelte sich innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums grundlegend. Schon vor der systematischen Anlage von Gewerbegebieten durch die WAS hatte man begonnen, zahlreiche Wohnsiedlungen aus dem Boden zu stampfen. Viele Kommunen im Südstormarner Raum verzeichneten bereits im Zeitraum 1950-56 eine Zunahme des Wohnungsbestandes von häufig über 50%, teilweise sogar über 80%.

Wie der Siedlungsbau, so veränderte auch der Straßenbau die regionale Topographie. Schon in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre wurde die Verbesserung des Straßennetzes zu einem wichtigen Ziel der Landes- und Kommunalpolitik. Unter den neuen überregionalen Trassen spielte die bereits erwähnte Bundesstraße 404 eine entscheidende Rolle. Das bestehende Stormarner Straßennetz, das sich nach Kriegsende meist in katastrophalem Zustand befunden hatte, wurde - teilweise mit Unterstützung des Landes - erneuert, wie 1953 die Möllner Landstraße zwischen Neu-Schönningstedt und Trittau. Neue überörtliche Verbindungen kamen hinzu, so die 1960 freigegebene Landesstraße zwischen Großensee und Siek. Vielerorts löste eine Schwarzdecke das Kopfsteinpflaster ab. Daneben wurden im Rahmen des "Grünen Plans" allein Ende der fünfziger Jahre rund 50 km landwirtschaftlicher Wirtschaftswege zu festen Straßen ausgebaut.

Fast alle Menschen in Stormarn waren auf irgendeine Art und Weise von diesen Veränderungen betroffen. überall war der Wandel wahrnehmbar, ja augenfällig. Lebensgeschichtliche Interviews haben gezeigt, daß es insbesondere die baulichen Umgestaltungen waren, die im Gedächtnis haftengeblieben sind. In einigen Orten waren sie besonders markant, wenn sie, wie die ländlich-gewerbliche Gemeinde Bargteheide, in den fünfziger und sechziger Jahren verstädterten, oder, wie das eng mit Hamburg verflochtene Glinde, zu Schauplätzen einer raschen Suburbanisierung wurden.

Zwei Beispiele seien etwas näher betrachtet: Reinbek und Hoisdorf. Reinbek, die nach Einwohnern heute zweitgrößte Stadt Stormarns, liegt an der südöstlichen Stadtgrenze von Hamburg. Sie hat sich seit dem 19. Jahrhundert vom Gutsdorf über den Villenvorort zu einer modernen Wohn- und Gewerbestadt entwickelt. Einst agrarisch genutzte Ländereien sind nach und nach zu Siedlungs- und Gewerbegebieten geworden. Das bereits erwähnte Gewerbegebiet Reinbek/Glinde/Schönningstedt lockte in den sechziger Jahren nicht nur viele Betriebe aus Hamburg an, sondern bewegte auch - mit gewisser zeitlicher Verzögerung - einen kleinen, aber wachsenden Teil der Belegschaften zum Umzug. Architektonische Zeugnisse des Strukturwandels in Reinbek sind Neubauten wie jenes 20geschossige, 65 m aufragende Hochhaus, das 1965 in der regionalen Presse mit dem Superlativ des höchsten Wohnhauses in Schleswig-Holstein gefeiert wurde. Zugleich konnte auf stadtnahe Grünzüge wie dem Billetal verwiesen werden - und damit auf einen hohen Wohnwert. Dem systematisch betriebenen Ausbau Reinbeks als Wohn- und Gewerbestadt folgten verbesserte Verkehrsanbindungen zur Metropole: 1969 gewann der Reinbeker Bahnhof größere Bedeutung, als die S-Bahnstrecke elektrifiziert wurde. Anfang der achtziger Jahre schließlich erhielt Reinbek eine eigene Anschlußstelle an der neuen Autobahn A 24 Hamburg-Berlin.

Diese verkehrstechnischen Verbesserungen weiteten die Verflechtungen zwischen Umland und Metropole aus. Die Metropole Hamburg mit ihrem Kultur- und Freizeitangebot gehört wie selbstverständlich zum Aktionsradius der Reinbeker. Wie bereits eine Studie von Anfang der siebziger Jahre unterstrich, stellen Reinbek und Hamburg - trotz ihrer "funktionalen Disparität" - einen eng miteinander verflochtenen Lebensraum dar. Reinbek ist damit frühzeitig zu einem charakteristischen Ausdruck jener mobilen Gesellschaft geworden, deren Räume funktional aufgeteilt und erschlossen werden.

Andernorts in Stormarn entstanden aus Bauerndörfern großstadtnahe Wohngemeinden im Grünen, wie das Beispiel Hoisdorf zeigt. Hoisdorf war nach dem Bau der erwähnten Walddörferbahn (heute U-Bahn-Linie) bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren ein Zufluchtsort für Hamburger geworden. Während des Zweiten Weltkrieges flüchteten überproportional viele Großstädter wegen tatsächlicher bzw. drohender Luftangriffe nach Hoisdorf - in der Nachkriegszeit konnte sich der lokale Verein dieser "Butenhamborger" in seiner Mitgliederzahl mit denen weitaus größerer Orte messen. Später wurde Hoisdorf für Großstädter zum bevorzugten Wohnrefugium im Grünen. Die neue Sozialstruktur des Dorfes veränderte auch dessen Topographie: Die Nähe zu den Verkehrstrassen gewann höchste Priorität. Das heutige, moderne Dorfzentrum befindet sich weit entfernt vom historischen Dorfkern und liegt näher zur Autobahn und zur U-Bahn-Haltestelle Großhansdorf.

Vom Strukturwandel betroffen war auch die Landwirtschaft - und zwar auf zweierlei Weise. Aus der Binnenperspektive betrachtet gab es eine Tendenz zu größeren Hofeinheiten. Die in etlichen Gemeinden durchgeführten Flurbereinigungen sorgten darüber hinaus für die Zusammenlegung zuvor verstreuter Agrarflächen. Diese "Rationalisierungstendenzen" bewirkten auf ihre Weise eine Funktionalisierung der Landschaft.

Gesamtwirtschaftlich gesehen ging die Bedeutung der Landwirtschaft zweifellos zurück. Es ist kein Zufall, daß die Presse 1965 die erste öffentliche Zwangsversteigerung eines Stormarner Bauernhofes nach dem Zweiten Weltkrieg melden mußte. Diese Entwicklung war sicher nicht auf Stormarn beschränkt, aber sie war hier besonders frappierend. Im Jahr 1970 waren von den rund 67 000 Erwerbstätigen in Stormarn nur noch sieben Prozent in der Landwirtschaft beschäftigt - der geringste Anteil aller Landkreise in Schleswig-Holstein. Wenn neue Gewerbegebiete und Verkehrstrassen geplant wurden, waren es häufig landwirtschaftliche Nutzflächen, die zerschnitten oder umgewidmet wurden. Dies war beispielsweise beim Bau der längs durch den Kreis trassierten B 404 der Fall, wo nicht die vom Stormarner Kreisbauernvorsitzenden angemahnte Berücksichtigung der "wirtschaftlichen Belange der Landwirtschaft" im Mittelpunkt stand, sondern das Interesse einer schnurgeraden Trassenführung. Geradezu sinnfällig verkörpert wurden die aufbrechenden Gegensätze durch die Zusammenstöße zwischen PKWs und landwirtschaftlichen Nutzfahrzeugen auf den Kreuzungen dieser neuen Schnellverkehrsstraße.

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