"Regionale Identität" im Hamburger Umland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - Eine Problemskizze
Von Prof. Dr. Norbert Fischer (Universität Hamburg)

3. Strukturwandel, "besondere Orte" und regionale Identität

Was bedeutete nun dieser Strukturwandel für die Ausbildung einer "regionalen", das heißt räumlich gebundenen Identität, für die sinnhafte Selbstverortung im Raum? Empirisch wird zum Zweck der Untersuchung im Folgenden auf das reichhaltige Material autobiografischer Interviews mit Befragungen über die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgegriffen, die im Kreis Stormarn aufgezeichnet wurden. Im methodischen Sinn handelt es sich um qualitative, offen geführte Interviews. Ohne hier auf die autobiografische Methode im einzelnen eingehen zu können, sei wenigstens grundsätzlich darauf hingewiesen, dass die erhobenen Aussagen naturgemäß keine objektiven "Wahrheiten" darstellen, sondern subjektive Empfindungen repräsentieren. Zudem ist stets zu berücksichtigen, dass es sich um den erinnernden, erzählenden Rückblick aus gegenwärtiger Sicht handelt: "Das Gedächtnis ordnet die Vergangenheit stets unter dem Eindruck der Gegenwart ... Das individuelle Gedächtnis ist im Sozialprozeß infolge dieser historischen Dimension fortwährend einem Aktualitätsdruck ausgesetzt. ... [Daher] muß diese historische Dimension subjektiver Selbstreflexion stets methodisch sorgfältig Schritt für Schritt von der Materialerhebung bis zur Auswertung reflektiert werden."

Prinzipiell lässt sich anhand der hier ausgewerteten autobiografischen Interviews belegen, dass räumliche Strukturen für die Ausbildung von Identität eine große Rolle spielen. An erster Stelle stehen jene Räume, die sich aus Kindheit und Jugend im Gedächtnis eingeprägt haben. Ein häufig genanntes Beispiel ist die als öffentlicher Spielraum angeeignete Straße. Außer der Straße sind es die freien Landschaftsflächen, die als selbst eroberte und angeeignete Spiel- und Abenteuerräume erinnert werden.

Über die vorgefundene Umgebung hinaus spielt vor allem der Wandel des Raumes eine bedeutsame Rolle. Fast alle Interviewten erinnerten auf irgendeine Art und Weise die skizzierten Veränderungen im Hamburger Umland. Regelmäßig blieben der Bau neuer Häuserzeilen und neuer Wohnsiedlungen im Gedächtnis haften. Gleiches gilt für Straßenbau, Kanalisation und andere Beispiele einer das Ortsbild prägenden technischen Infrastruktur. Immer wieder wurde der räumliche Wandel erinnert und thematisiert - die Anlage neuer Industrie- und Gewerbegebiete ebenso wie die ersten Hochhäuser. Besonders prägnant war die Erinnerung, wenn ganze Ortskerne gleichsam ausradiert und dann völlig neu konzipiert wurden - exemplarisch in Bargteheide und Glinde. Über die ursprünglich erfahrene und angeeignete Umgebung hinaus ist also vor allem deren Wandel in der lebensgeschichtlichen Erinnerung präsent. Konnten also die Orte und Räume "die Erinnerung festigen und beglaubigen, indem sie sie lokal im Boden verankern", wie Aleida Assmanns eingangs zitierte Feststellung lautete?

Hier zeigt unser Interviewmaterial deutlich, dass die Erinnerung der räumlichen Umgebung vom Gefühl des Verlustes geprägt war - sie wurde zur so genannten "Verlusterzählung". Die erinnerten Orte veränderten und verflüchtigten sich im Lauf der Zeit. Orte und Räume, die man sich zuvor angeeignet hatte, mussten wieder aufgegeben werden. Dies aber ist für die Entwicklung regionaler Identität von entscheidender Bedeutung. Nach Ansicht des Regionalsoziologen Detlev Ipsen lassen sich die Identifikationsangebote einer Region nach den "besonderen", unverwechselbaren Orten bemessen, die sie bietet und die eine gewisse Kontinuität zeitigen müssen. Im Hamburger Umland aber wurden eben diese "besonderen", unverwechselbaren Orte regelrecht wegplaniert, um moderner Uniformität Platz zu machen. Der räumliche Wandel unterminierte regionale Identität, indem er ihr gerade jene lokale Verankerung nahm, die Aleida Assmann einfordert. Besondere Orte, die im autobiografischen Gedächtnis eine bedeutsame Rolle gespielt und Identität im Raum verankert hatten, gingen durch Strukturwandel und Modernisierungsprozess verloren. Für das Hamburger Umland erweist sich damit eine regionale Identität als Anachronismus - zu wenig "besondere Orte" boten die räumlichen Koordinaten. Der sinnhaften Verortung im Raum wurde der Boden unter den Füßen entzogen - im wahrsten Sinn des Wortes. Wenngleich es also keinem prinzipiellen Zweifel unterliegen kann, dass "Identität" räumlich zu verankern ist, so bleibt dies an gewisse strukturelle Voraussetzungen gebunden - Voraussetzungen, die es im Hamburger Umland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr gab, denn hier war tendenziell ein "Raum ohne Eigenschaften" entstanden.

Man mag mit Recht einwenden, dass "regionale Identität" nicht nur räumlich, sondern auch auf kulturell-symbolischer Ebene zu verankern wäre. Und in der Tat gab es auch im Hamburger Umland solche Versuche, dem raschen Wandel auf symbolischer Ebene etwas Dauerhaftes entgegenzusetzen. Dies geschah in der Regel im Rückgriff auf die Vergangenheit und ihre Relikte: Die entschwindenden ländlichen Lebenswelten tauchten unter anderen Vorzeichen wieder auf - beispielsweise in der Musealisierung alter Dorf- und Agrarlandschaften und der Bewahrung historischer Ensembles mit Teich und Kopfsteinpflaster, in der Renaissance des Reetdaches ("Wiederverländlichung auf symbolischer Ebene", wie es Detlev Ipsen einmal nannte), dann in den zahlreich entstehenden Heimat- und kulturgeschichtlichen Museen, die das Erbe ländlicher Lebenswelten überliefern (mit dem Freilichtmuseum Kiekeberg im Landkreis Harburg als bekanntestem Beispiel). Schließlich gehört auch die Ausweisung zahlreicher, meist inselhaft kleiner Naturschutzgebiete zu dieser kompensatorisch-symbolischen Ebene - bilden sie doch die modelliert-"naturnahe", auf eine spezifische Weise ebenfalls uniformierte Kompensation zu den verdichteten Verkehrstrassen, Wohn- und Gewerbegebieten. Allein der flächenmäßig relativ kleine Kreis Stormarn verfügte zu Beginn des 21. Jahrhunderts über 14 einzelne Naturschutzgebiete.

Jedoch zeigt das Interviewmaterial, dass dieser retrospektive Blick auf vergangene Landschaftsbilder und Lebenswelten nicht geeignet ist, das Fundament einer regionalen Identität zu bilden oder gar neu zu erschaffen. Die genannten Symbole vergangener Lebenswelten spielten in der Wahrnehmung der Interviewpersonen keine erkennbare Rolle. Abgesehen von Einzelfällen hatten sie für die individuelle Raumbindung ebenso wenig eine herausragende Funktion wie entsprechende raumplanerische Zielvorgaben zur Bewahrung von Identität.

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