"Regionale Identität" im Hamburger Umland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - Eine Problemskizze
Von Prof. Dr. Norbert Fischer (Universität Hamburg)

2. Über den Strukturwandel im Hamburger Umland

Unter diesen Ausgangsbedingungen erscheint es lohnend, den Wechselbeziehungen zwischen "Region" und "Identität" an einem empirisch abgesicherten Fallbeispiel nachzugehen - dem Hamburger Umland. Als Hamburger Umland im engeren Sinn werden für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in der Regel die vier schleswig-holsteinischen Kreise Pinneberg, Segeberg, Stormarn und Herzogtum Lauenburg sowie die beiden niedersächsischen Landkreise Harburg und Stade bezeichnet. Das Hamburger Umland lässt sich aus unterschiedlichen Perspektiven als "Region" definieren: a.) ist es seit langem politisch und raumplanerisch als einheitliches Gebiet behandelt worden, weil es in besonderen, vielfältigen Wechselwirkungen mit der nahen Großstadt Hamburg steht;
b.) ist es im 20. Jahrhundert einem vergleichbaren sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Problemdruck ausgesetzt gewesen - namentlich nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Zuwanderung von flüchtlingen, Vertriebenen sowie ausgebombten Hamburgern in damals noch weitgehend ländlich geprägte Gebiete;
c.) mündete dieser Problemdruck in einen Strukturwandel, der das Gesicht des Hamburger Umlandes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts grundlegend veränderte und der mit dem häufig verwendeten Begriff der "Suburbanisierung" nur unzureichend - weil schon im Präfix die klassiche Stadt-Land-Hierarchie reproduzierend - etikettiert werden kann.

Betrachtet man die allgemeine Entwicklung des Hamburger Umlandes und insbesondere den nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Strukturwandel, so erscheint statt des Suburbanisierungs-Begriffs vielmehr der Terminus der "fordistischen Modernisierung" als angemessene Charakterisierung geeignet. Dieser Terminus bezeichnet einen Prozess, in dessen Verlauf zuvor ländlich-agrarische Zonen durch gewerblich-industrielle und bevölkerungsmäßige Expansion sowie durch Massenproduktion und Massenkonsum überformt werden. Politisch-planerisch wurde dieser Modernisierungsprozess mit dem Ziel verknüpft, unter anderem durch Verbesserung der Infrastruktur das Wohlstandsgefälle zwischen Stadt und Land tendenziell aufzuheben. Er mündete in die Ausbildung neuartiger, hybrider Räume zwischen Stadt und Land, die die einstige Hierarchie beider aufgelöst hat und im Konzept der "Mikrolandschaften" erfasst und analysiert worden ist.

Im Hamburger Umland zeigte sich der Modernisierungsprozess seit den 1950er Jahren zum einen als gewerblich-industrielle Verdichtung, hervorgerufen durch zahlreiche Standortverlagerungen Hamburger Betriebe ins Umland. Sie verdrängten die dort zuvor dominanten landwirtschaftlich-handwerklichen Produktionsformen. Wie aus dem 1965 präsentierten ersten Raumordnungsbericht der schleswig-holsteinischen Landesregierung hervorging, verzeichneten Umlandkreise wie Pinneberg und Stormarn im landesweiten Vergleich bereits damals eine stark überproportional steigende Industrialisierungstendenz. Im Kreis Stormarn beispielsweise verfünffachte sich zwischen 1950 und 1970 der Industriebesatz, also die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe je 1000 Einwohner. Diese gewerblich-industrielle Verdichtung erfasste nach und nach große Teile des Umlandes - schwerpunktmäßig zuerst das nördliche Umland, später auch Zonen südlich der Elbe (wie exemplarisch die Industrialisierung der Niederelbe im Raum Stade seit den späten 1960er Jahren zeigt). Im südlichen Umland waren es darüber hinaus großstadtnahe Kommunen wie Meckelfeld, Maschen und Neu-Wulmstorf, die frühzeitig expandierten.

Zu dieser Expansion gehörte ein rasanter Bevölkerungsanstieg. Dazu trug neben den bereits erwähnten flüchtlingen und Vertriebenen seit den 1960er Jahren auch die quantitativ bedeutende Abwanderung Hamburger Stadtbewohner ins Umland bei. In einigen der Umlandgemeinden verlief die Entwicklung besonders dramatisch. So verachtfachte das an der Grenze zwischen den Kreisen Harburg und Stade gelegene Neu-Wulmstorf seine Bevölkerungszahl von 1939 (565 Einwohner) bis 1961 (4255 Einwohner). Bemerkenswert ist auch die Entwicklung von Buchholz (Landkreis Harburg), das seine Bevölkerungszahl - bei ungleich höherem Ausgangsniveau - zwischen 1939 und 1968 mehr als vervierfachte und bereits 1958 das Stadtrecht erhielt.

Der Modernisierungsprozess im Umland veränderte in weiten Teilen das Erscheinungsbild der Region. Im Zuge der Ausweisung großflächiger Wohn- und Gewerbegebiete kam es zur Verstädterung einstmals ländlicher Orte. Diese äußerte sich in mehrgeschossigem Wohnungsbau, Verdichtung des Ortskernes zur "City" sowie im Ausbau der sozialen und technischen Infrastruktur, vor allem der Verkehrsnetze mit Schnellstraßen und Autobahnen. Für die Region des Hamburger Umlandes insgesamt zog dies eine räumliche Zonierung und Uniformierung nach sich - es entstanden funktional aufgeteilte Räume, deren Erscheinungsbilder sich glichen. Die Komplexität des Raumes wurde mithin reduziert - und die in den 1960er Jahren einsetzende landwirtschaftliche flurbereinigung tat bei den verbliebenen Agrarflächen das Ihre, um die Uniformierung des Umlandes voranzutreiben.

Nicht zuletzt führte der rasche Strukturwandel zu zahlreichen kommunalen Gebietsneuordnungen. Diese in den 1960er und 1970er Jahren durchgeführten Gebietsreformen erfassten praktisch das gesamte Umland und mündeten in teilweise völlig neue kommunale Gebilde. Das markanteste Beispiel ist die Neugründung der Stadt Norderstedt, die zum 1. Januar 1970 als damals drittgrößte Stadt Schleswig-Holsteins aus vier Großgemeinden der Kreise Pinneberg und Stormarn gebildet und dann dem Kreis Segeberg zugesprochen wurde.

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