Vom Nachkriegselend zur Metropolregion:
Der Kreis Stormarn 1945-2004

Vortrag Norbert Fischer, Bad Oldesloe, 30. Okt. 2005

Wie sah damals der Alltag im Kreis Stormarn aus? In den ersten Nachkriegsjahren wurde Stormarn erst recht zur Flüchtlings-Hochburg in Deutschland. Kein Landkreis mußte mehr Flüchtlinge aufnehmen - auf zehn Einheimische kamen zwölf Flüchtlinge. Das verschärfte die damals ohnehin herrschende Ernähungs- und Wohnungsnot noch weiter. Zuzug und Neuansiedelung sollten weit über die erste Nachkriegszeit hinaus die Probleme des Kreises bestimmen, obwohl es im Kreis kaum genügend Arbeitsplätze gab.

Besonders gelitten hatte Oldesloe. Es war die einzige Stadt in Stormarn und eine der wenigen schleswig-holsteinischen Städte, bei denen der Bombenkrieg auch zu massiven Zerstörungen geführt hatte. Der Luftangriff vom 24. April 1945 hatte große Teile der Stadt getroffen, vor allem die Gebiete am Bahnhof, der ja als damaliger Verkehrsknotenpunkt ersten Ranges das eigentliche Ziel des Angriffs war. Ein Viertel der Wohngebäude wurden zerstört oder stark beschädigt.

Nicht nur in Oldesloe, sondern überall im Kreis wurde der Wohnungsbau zum eigentlichen Thema - vor allem, als nach der Währungsreform vom Juin 1948 die wichtigsten Versorgungsprobleme schrittweise gelöst werden konnten. Bis Mitte der fünfziger Jahre wurden allein in Oldesloe insgesamt über 1 400 Wohnungen geschaffen. Dennoch blieben die Wohnungsprobleme bis auf weiteres bestehen, denn 1955 waren noch immer über 2 000 Wohnungssuchende beim Oldesloer Wohnungsamt gemeldet. Die Bevölkerungszahl der neuen Kreisstadt betrug damals rund 15 000 - gegenüber rund 8 000 vor dem Zweiten Weltkrieg.

Zweifellos bedeuteten diese 1950er Jahre für Stormarn - mehr noch als für andere Regionen - eine Zäsur. Diese Zäsur war aber auch eine Chance, die der Kreis in den folgenden Jahrzehnten nutzen sollte. Stormarn entfaltete sein vielfältiges Potential, es wurde - im damaligen Verständnis - "modern". Als entscheidender Katalysator erwies sich, dass Hamburger Unternehmen in den 50er Jahren begannen, ihren Standort ins Umland zu verlagern. Hier bot sich - nicht zuletzt dank der Zonenrandförderung - die einmalige Chance, neue Arbeitsplätze innerhalb Stormarns zu gewinnen. Die Ansiedlung der Unternehmen wurde ab 1957 gelenkt durch die vom Kreis gegründeten Wirtschafts- und Aufbaugesellschaft Stormarn (WAS). Die WAS errichtete nach und nach in den einzelnen Kommunen neue Gewerbegebiete, die rasch mit Betrieben belegt werden konnten: Harksheide (1957), Glashütte (1959), das große gemeinsame Gewerbegebiet Reinbek/Glinde/Schönningstedt (1959/60), Bargteheide (1960), Ahrensburg (ab 1961), Bad Oldesloe (1964).

Im Gegenzug verlor die Landwirtschaft ihre frühere Bedeutung. Nach einer kurzen Renaissance nach dem Zweiten Weltkrieg, bedingt durch die besonderen Umstände der Ernährungs- und Arbeitsplatznot, wurde auch Stormarns Landwirtschaft rasch vom Höfesterben, von Mechanisierung und Motorisierung erfasst. Gab es 1949 noch rund 2 500 Höfe mit über 2 ha LN, so waren es 1976 nur noch rd. 1 400. Der Landarbeiter als Beruf starb bereits in den 1970er-Jahren aus, heute werden die Höfe in der Regel von 1-2 Arbeitskräften bewirtschaftet: dem Landwirt und seiner Frau.

Damit setzte sich in Stormarn ein grundlegender Strukturwandel durch, der aus einst ländlich-agrarischen Zonen eine gewerblich-industrielle Wachstumsregion machte. In Stormarn stieg der Industrieumsatz zwischen 1957 und 1975 um 284%, die Zahl der Industriebeschäftigten um 174%. Wie auch der Kreis Pinneberg wurde Stormarn innerhalb kürzester Zeit zu einem gewerblich-industriellen Schwerpunkt innerhalb Schleswig-Holsteins.

Diese rasche gewerbliche Entwicklung Stormarns war in den 1960er-Jahren mit einem weiteren Bevölkerungsschub verbunden, die mit der so genannten Stadtflucht aus Hamburg verbunden war. Wieder waren neue Wohnungen gefragt, immer höher wurden die Häuser in Stormarn. Vor allem in den 60er Jahren entfaltete sich im Umland ein städtebauliches Verständnis von "Modernität", das vielen Kommunen ein ganz neues Gesicht gab. Dies erfaßte vor allem Orte, die regionalplanerisch eine besondere Förderung erfuhren - solche, die auf den Aufbau- und Entwicklungsachsen lagen oder als Achsenendpunkte ausgewiesen waren. Diese Orte unterlagen einer politisch-planerisch gewollten und finanziell geförderten Suburbanisierung. Ganz neue Stadtzentren, sogenannte "Cities", wurden in den 60er Jahren aus dem Boden gestampft, wie die Beispiele Rathausplatz Ahrensburg und "Neue City" in Glinde zeigen. Kein Wunder, dass Orte mit solch raschem Bevölkerungswachstum bald auch Stadtrechte erhielten: Bargteheide 1970, Glinde 1979.

Eine Schlüsselrolle bei diese Strukturwandel spielte der Ausbau der verkehrstechnischen Infrastruktur und die in den 60er Jahren einsetzende Automobilisierung des Alltags. Sie ermöglichte jene inviduelle Mobilität, die auch die Voraussetzung für die zunehmende Auflösung des Stadt-Land-Gegensatzes bildete. Dadurch wurden nicht nur die Randzonen der Städte, sondern auch entferntere ländliche Gebiete wie Nordstormarn zu einem Schwerpunkt der Mobilität - die Wohnortbindung spielte eine immer geringere Rolle in Gesellschaft und Alltag. Die längs durch den Kreis trassierte Nord-Süd-Verbindung B 404 (heute teilweise A 21) war der wichtigste Straßenneubau für Stormarn in den 50er und 60er Jahren.

Im Übrigen sollte - so der Wille der Raumplaner - die gewerblich-industriellen Schwerpunkte auf die Entwicklungsachsen konzentriert werden, die an den Hauptverkehrsschneisen lagen. Davon profitierten beispielsweise Ahrensburg und Bargteheide, die verkehrsgünstig nahe der Autobahn A 1 liegen. Anfang der 1980er Jahre erfolgte dann die vollständige Freigabe der A 24 Richtung Berlin und verbesserte die Anbindung des südstormarnschen Raumes um Reinbek/Glinde. Der Norden Stormarns berührt der Neubau der A 20 mit dem Autobahnkreuz bei Hamberge. Auch der Umstand, dass das vom Autobahn-Netz ohnehin nicht gerade vernachlässigte Stormarn jüngst an der A 1 mit "Barsbüttel" eine weitere Anschlussstelle im hamburgnahen Raum bekommen hat, zeigt diese Tendenz - wenngleich es wirkt, als diene diese neue Abfahrt speziell der Ankurbelung des Preiskampfes unter Möbelkaufhäusern (Höffner; 3. November)

All diese Entwicklungen veränderten natürlich das Dorf, wie es bislang noch immer vertraut war. Das Dorf verlor seine agrarisch-kleingewerblichen Zusammenhängen bestimmt war. Immer mehr übernahm es die Sonderfunktion des "Wohnens" - und zerfiel dabei nicht selten, wie Hoisdorf, in viele kleine Teilsiedlungen. Dorfschulen wurden aufgelöst und zentrale Dörfergemeinschaftsschulen eingerichtet, bevor die kommunalen Gebietsreformen der 70er Jahre vielen Gemeinden ihre politische Selbständigkeit nahm.

Noch drastischer wirkte sich die kommunale Neuordnung in den rasch expandierenden Gemeinden der unmittelbaren Hamburger Randzone aus. Im Fall von Norderstedt kam es 1970 sogar zur Neugründung einer Stadt, die von der Kieler Landesregierung fast diktatorisch gegen den Willen des Kreises Stormarn durchgesetzt wurde. Die Neubildung der Stadt Norderstedt griff aus Stormarner Sicht stark in die Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung ein: Stormarn verlor mit Harksheide und Glashütte zwei wirtschafts- und bevölkerungsstarke Gemeinden. Auch die stormarn-internen Gemeinde- und Ämterzusammenlegungen der 1970er-Jahre verliefen keineswegs konfliktfrei - im Falle des Amtes Nordstormarn ging der Klageweg bis in höchste Instanzen, im Raum Südstormarn sorgte die Zusammenlegung von Schönningstedt mit Reinbek für Unmut. Bis 1975 verinngerte sich die Zahl der selbststnädigen Gemeinden in Stormarn auf 55, die der Ämter auf 5.

Spätestens um 1980 wurde regionale Modernisierung der Nachkriegsjahrzehnte auch kritisch betrachtet. Die ökologischen Folgekosten, etwa der Abfallbeseitigung und der Umweltbelastung durch den rasant gestiegenen Individualverkehr, werden gesellschaftlich und politisch stärker reflektiert. Die Abfallproblematik rückte in den Mittelpunkt, nachdem zahlreiche wilde Müllkippen insbesondere die hamburgnahen Gebiete verunstaltet hatten. In Barsbüttel sorgte in den 1980er-Jahren die Überbauung der ehemaligen Mülldeponie 78 mit Wohnhäusern für einen überregional bekannten Skandal: Wegen Gesundheitsgefährdung durch Emission aus der Deponie musste die Wohnsiedlung geräumt und überwiegend abgerissen werden. Waren dies "Altlasten" einer verfehlten Abfallpolitik, so zeigte sich das Umdenken in der 1979 eröffneten, länderübergreifend betriebenen Müllverbrennungsanlage Stapelfeld.

Auch die architektonische Modernisierung - sprich: der Hochhausbau - fand kein ungeteiltes Wohlwollen mehr. Straßen wurden "zurückgebaut", Gassen mit historischem Pflaster versehen, alte Bauernhäuser wieder mit Reet gedeckt, Dorfbrunnen restauriert. Die Dorfentwicklung - auch als Dorferneuerung bekannt - hat diese Tendenzen zur Konservierung ländlicher Bauformen ab 1983 unterstützt. Zwischen 1983 und 2001 wurde in 14 Stormarner Gemeinden ein Dorferneuerungsplan durchgeführt, finanziert vom Land und vom Kreis. In musealisierter Form werden die alten ländlichen Lebenswelten, die neues Interesse gefunden haben, im "Stormarner Dorfmuseum" in Hoisdorf zur Schau gestellt.

Wohl gerade wegen des rasanten Strukturwandels gab es im Hamburger Umland frühzeitig ein ausgeprägtes Naturschutzbewußtsein. Der Landkreis Stormarn beispielsweise verfügte nicht nur seit den 50er Jahren über einen Naturschutzbeauftragten, sondern auch über eines der ersten und größten schleswig-holsteinischen Naturschutzgebiete. Die meisten der heute existierenden Naturschutzgebiete wurden dann seit den 70er Jahren angelegt, so das Brenner Moor, das Wittmoor und das Ahrensburger Tunneltal mit immerhin rund 340 Hektar. In dem ehemaligen Bauerndorf Hoisdorf wurden mit den "Hoisdorfer Teichen" allein 30 Hektar innerörtlicher Fläche als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Es lag mitten zwischen neuen dörflichen Wohnsiedlungen. All diese Flächen blieben künftig von jeder Bebauung ausgespart und wurden nur von wenigen Spazier- und Wanderwegen durchzogen.

Auch die Naherholung war ein wichtiges Thema der Raumplaner. Besonderes Interesse an der Schaffung naturnaher Erholungsräume zeigte man in jenen Gebieten, in denen die Suburbanisierung stark vorangeschritten war. Ein typisches Beispiel ist Glinde - ein ehemaliges Gutsdorf, das rasch verstädterte und dessen Ortskern in den 60er und 70er Jahren cityähnlich verdichtet wurde. Im Bereich eines Wasserlaufes und Mühlenteiches wurden weitläufige, naturnah gestaltete Naherholungseinrichtungen geschaffen. Sie wurden ausdrücklich als Gegengewicht zur suburbanen City-Bildung betrachtet.

Ein solch kompensatorisches Gegengewicht bildete auch jene kleine Renaissance der Landwirtschaft, die mit dem Begriff "Öko-Höfe" verbunden ist. Seit 1978 beherbergt Stormarn mit dem Hof Lütjensee eines der deutschlandweit bekanntesten Beispiele von ökologischer Landwirtschaft. Zugleich darf sich Stormarn rühmen, im Hof Lütjensee die weltweit einzige und letzte Zufluchtsstätte des Kärntner Brillenschafes zu haben (honni soit qui mal y pense - der Eigentümer des Hofes ist bekanntlich ein Brillenverkäufer namens Fielmann ...)

Windräder sind längst nicht mehr nur ein Charakteristikum der Küste sind: Auch in Stormarn ist diese Form ökologischer Energieerzeugung bekannt - zugleich ist sie eine neue Einnahmequelle für Landwirte, die ihren Grund und Boden für Windräder zur Verfügung stellen.

Seit den 1990er-Jahren ist Stormarn Teil der Metropolregion Hamburg, einem länderübergreifend konzipierten Planungsverbund. Mit einer komplexen Verwaltungs- und Entscheidungshierarchie soll die räumliche, wirtschaftliche und nicht zuletzt verkehrstechnische Entwicklung im Großraum Hamburg aufeinander abgestimmt werden. Auch Fragen der Naherholung und des Tourismus spielen eine wichtige Rolle (Maritime Landschaft Unterelbe).

Für die breite Bevölkerung zeigt sich der Weg Stormarns in die Metropolregion vielleicht in nichts deutlicher als am Beispiel HVV. Seit Dezember 2002 ist der Kreis Stormarn in seiner ganzen Ausdehnung in das Netz des HVV-Verkehrsverbundes einbezogen - und nicht nur der hamburgnahe Teil des Kreises, wie zuvor. Durch die einheitliche Fahrpreisgestaltung ist eine oft beklagte Grenze entfallen. Der wechselseitige Austausch - nicht zuletzt der Naherholungsverkehr am Wochenende und Feiertagen - hat erheblich zugenommen.

Dass "Metropolregion" nicht automatisch bedeutet, die Suburbanisierung im Kreis Stormarn schreite unaufhörlich voran, zeigen die vielen Renaturierungsmaßnahmen in Stormarns Landschaft - selbst neuere Gewerbegebiete weisen inzwischen ökologische Ausgleichsflächen auf. Das wohl bekannteste Beispiel aus den letzten Jahren ist die "Solgleite" an der Trave inmitten von Bad Oldesloe - eine spezielle Art der "Fischtreppe". Ob sie der Ansiedlung neuer Fischarten wirklich dient, wissen wir vorerst noch nicht. Aber der Fischreiher nutzt die Solgleite perspektivisch schon einmal als eine Art Ansitz und harrt der Dinge, die da kommen sollen - romantische Naturimpressionen inmitten der Metropolregion.

nach oben