V. Pluralisierung von Bestattungs- und Erinnerungsorten

Die Aschenbeisetzung ermöglichte zudem das zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer häufiger zu beobachtende Auseinanderdriften von Bestattungsort einerseits und Erinnerungsort andererseits – eine der bedeutsamsten und folgenreichsten Entwicklungen postmoderner Bestattungskultur. So lässt sich feststellen, Tod, Bestattung und Trauer ihre feste gesellschaftliche Verortung verloren haben. Zu den jüngsten Entwicklungen einer „mobilen Erinnerungskultur“ gehört dabei der Aschediamant. Diese Art der Teilbestattung der Asche ist in Deutschland zwar untersagt, kann aber über einen Hersteller seit 2005 in der Schweiz praktiziert werden. Der Aschediamant, der mit einem bestimmten, von nur wenigen Fachleuten beherrschten Verfahren in einem mehrtägigen Verfahren aus dem Kohlenstoff der Asche produziert wird, kann unter anderem als Schmuckstück am Körper getragen werden. Die übrigen Teile der Asche werden regulär bestattet. Der Aschediamant zählt im Kategoriensystem von Thomas Klie zum performativen Code. Er setzt „vor allem auf die Inszenierungsqualitäten, die die letzte Lokalisierung bzw. Dislokation der Leiche“ zu zeigen vermag. Und über die Folgewirkungen heißt es: „Damit verlagern sich die bestattungskulturellen Semantiken radikal: von der dauerhaften Repräsentation [auf dem Friedhof] [hin zur]… Imaginationskraft der Überlebenden.“ [12] Die Aschenreste bieten hier vielfältiges Potenzial, mit anderen Elementen von Trauer und Erinnerung kombiniert zu werden. Als „ebenso miniaturisierte wie mobile und dauerhafte Verdichtung“ lassen sie sich im Kontext der Erinnerungskultur flexibel einsetzen. [13]

Auch andere Varianten postmoderner Trauer- und Erinnerungskultur haben sich vom Bestattungsort gelöst. Zu ihnen zählt „public mourning“, also die Trauer im öffentlichen Raum. Kreuze am Straßenrand als Erinnerungsorte für Verkehrsopfer gehören ebenso dazu wie Trauer- und Erinnerungsstätten für bekannte Persönlichkeiten. Kreuze am Straßenrand und vergleichbare Memorials bilden einen individuell-schöpferischen Akt der Trauer- und Erinnerungsarbeit in einer mobilen Gesellschaft, deren Symbol die Straße ist. Solche Memorials sind zumeist temporärer Natur und sind manchmal nur wenige Wochen oder Monate, manchmal mehrere Jahre zu sehen. [14]

Auch das Medium Internet hat seit Beginn der 1990er-Jahre neue Ausdrucksformen von Trauer und Erinnerung hervorgebracht, die unabhängig vom Bestattungsort sind. [15] Die wachsende Zahl der Internet-Gedenkseiten zeigt, wie rasch sich der Umgang mit Tod und Trauer den neuen Medien der postindustriellen Gesellschaft anzupassen vermag. Mit der Möglichkeit, elektronische Botschaften zu hinterlassen, werden Privatheit und Öffentlichkeit in eine neue Beziehung gebracht. Manche Einträge umfassen seitenlange (Lebens-) Geschichten, persönliche Dokumente wie Tagebuchaufzeichnungen, Fotos, Videos, Musik, Erinnerungsobjekte. „Virtuelle Friedhöfe als Teil eines globalen kommunikativen Netzes … stellen daher einen soziokulturellen Indikator gegenwärtiger Erinnerungs- und Trauerkultur dar,“ heißt es in einer der frühen wissenschaftlichen Studien zu diesem Phänomen. [16] Die Gründe für die Einrichtung und Nutzung virtueller Gedenkseiten verweisen auf die partikularisierten Lebenswelten der postmodern-mobilen Gesellschaft – zum Beispiel die häufig weite Distanz zwischen Grabstätte und Wohnort der Hinterbliebenen. Eine Familiengrabstätte auf einem klassischen Friedhof, wie sie aus dem bürgerlichen Zeitalter bekannt ist, macht kaum Sinn, wenn die Generationen weit voneinander entfernt leben. Stattdessen rückt im Internet die Erinnerungsfunktion als kommunikative Ebene in den Mittelpunkt. Nach Ansicht des Schweizer Soziologen Hans Geser, der sich ebenfalls frühzeitig mit diesem Phänomen befasste, können virtuelle Gedenkstätten als „Frühindikatoren einer neuen Todeskultur“ betrachtet werden. Es gibt Geser zufolge „... aus theoretischer Sicht sehr wohl einige Gründe, um in ihnen die Embryonalform einer durchaus evolutions- und verbreitungsfähigen neuen Todeskultur zu sehen, die den Bedürfnissen einer komplexen, mobilen, pluralisierten, individualisierten und säkularisierten Gesellschaft in vielerlei Weise entspricht.“ [17] Zu den Gründen zählt der Bedeutungsverlust herkömmlicher, lokal gebundener Formen der Bestattungs- und Trauerkultur, wenn der Verstorbene zum Kreis hochmobiler Personen mit wechselhafter Lebensgeschichte zählt. Im übrigen ermöglicht das virtuelle Totengedenken neue Formen der gesellschaftlichen Kommunikation über den Tod, die die bisherige, bipolare Ausrichtung der Trauerfeiern (Redner/Trauergemeinschaft) auflöst und es gestattet, unabhängig von vorgegebenen Räumen neue Formen der emotionalen Anteilnahme zu mobilisieren. [18]



Quellen

[12] Klie, Performanzen, 2008, S. 9 – 10.
[13] Mädler, Urne, 2008, S. 73.
[14] Aka, Unfallkreuze, 2007.
[15] Gebert, Erinnerungskultur, 2009.
[16] Schwibbe/Spieker, Virtuelle Friedhöfe, 1999.
[17] Geser, Virtuelle Gedenkstätten, 2000, S. 233.
[18] Ebd., 233 – 235, S. 238.