Bestattungskultur zwischen Moderne und Postmoderne
erschienen in: Daniel Schäfer u.a. (Hrsg.): Perspektiven zum Sterben. Auf dem Weg zu einer Ars moriendi nova? Stuttgart 2012, S. 53 – 62
Von Prof. Dr. Norbert Fischer

I. Aufbruch in die Moderne: Die technische Feuerbestattung

Sterben, Tod und Trauer zwischen Moderne und Postmoderne – das ist die Geschichte einer höchst ambivalenten Entwicklung. Einerseits unterlag sie dem Diktum von Rationalität und Technik: Krematorien haben den Bestattungsvorgang seit dem späten 19. Jahrhundert funktionalisiert und beschleunigt. Damit repräsentieren sie einen pragmatischen, „entzauberten“ Umgang mit dem Tod. Auf der anderen Seite gab es gegenläufige Tendenzen: Aus den Bestattungsplätzen wurden romantische Park- und Waldfriedhöfe – Kulisse für einen ausufernden Grabmalkult und Fluchtpunkt bürgerlicher Trauerkultur. Im frühen 21. Jahrhundert spitzen sich die Gegensätze zu: Der hohe Anteil von namen- und zeichenlosen Rasenbeisetzungen (so genannte anonyme Bestattung) bildet einen neuen Höhepunkt im pragmatischen Umgang mit den Toten und scheint das Ende jeglicher postmortaler Erinnerungskultur anzukündigen. Demgegenüber und fast zeitgleich entfaltet sich ein breites Spektrum neuer, individualistischer Bestattungskultur, die den Friedhof teilweise verlässt, dabei die Tradition der naturlandschaftlichen Bestattungen weiterführt und deren Erscheinungsformen zwischen Baumbestattungen und Aschediamanten oszillieren.

Grundlegende Voraussetzung dieser Entwicklungen sind Feuerbestattung und Aschenbeisetzung. Der Bau der ersten Krematorien in Deutschland im späten 19. Jahrhundert markiert eine Zäsur in der Geschichte der Bestattungskultur. Es ist eine Zäsur, deren Folgen bis heute nicht nur fortwirken, sondern sich verstärkt haben. Feuerbestattung und Krematorien sind die Ausdrucksformen des modernen, technisierten Umgangs mit dem Tod. Das Krematorium vereint erstmals wichtige Etappen der Bestattung in einem einzigen Gebäude: Es ist Verwahrort für Leichen, Ort der Trauerfeier und Ort der Einäscherung – einige Krematorien sind mit ihren Kolumbarien (Urnennischen) auch Beisetzungsorte. Das Krematorium funktionalisierte die Bestattung durch einen möglichst reibungslosen, ineinandergreifenden Ablauf.

Die Anfänge der modernen Feuerbestattung hingen mit der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer stärker in Erscheinung tretenden Industrialisierung und Urbanisierung und den daraus resultierenden infrastrukturellen Probleme in den Städten zusammen. Die Einäscherung wurde als hygienische und kostengünstige Lösung der Raumprobleme auf städtischen Friedhöfen propagiert. Dabei war es ein in sich verwobenes Faktorenbündel aus Bevölkerungswachstum, Raumnot auf den Friedhöfen und wachsender Sensibilität für hygienische Probleme, das den Bau der ersten technischen Krematorien ermöglichte. Auf allgemeine Weise begünstigend wirkten der technische Fortschritt und vor allem die gesellschaftliche Säkularisierung, also der wachsende Bedeutungsverlust der Kirchen. Hinzu kamen nicht zuletzt eine berufsspezifische Interessenpolitik, etwa von Hygienikern, Medizinern und Ingenieuren, die die Feuerbestattung unterstützte. Vor diesem Hintergrund entfaltete sich in Deutschland seit den 1870er-Jahren eine in Vereinen organisierte Feuerbestattungsbewegung. Aber konservatives Bürgertum und Kirchen, vor allem die katholische (die die Feuerbestattung bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil in den 1960er-Jahren verbot), bildeten ernstzunehmende gesellschaftliche Gegner. Dennoch entstanden die ersten deutschen Krematorien in Gotha (1878), Heidelberg (1891) und Hamburg (1982). Um 1910 gab es bereits 20 Krematorien in Deutschland. Allerdings blieb die Feuerbestattung vor dem Ersten Weltkrieg weitgehend Angelegenheit einer schmalen Schicht innerhalb des aufgeklärten Bürgertums. Für die weitere Geschichte der Feuerbestattung sollte es von großer Bedeutung sein, dass sie auch in breiten Arbeiterkreisen Fuß fassen konnte. Dies geschah im Wesentlichen nach dem Ersten Weltkrieg. Nun erwies sich die Feuerbestattung als ein entscheidender Baustein der Rationalisierung im kommunalen Bestattungswesen. Durch gezielte Gebührensenkungen gelang es den Kommunen, die Einäscherungszahlen deutlich zu steigern und die Krematorien besser auszulasten. Anfang der 1930er-Jahre gab es in Deutschland bereits über 100 Krematorien. Dieser Aufwärtstrend der Feuerbestattung hat sich bis heute fortgesetzt – mit allerdings nach wie vor deutlichen regionalen Unterschieden und einem starken Stadt-Land-Gefälle.