6. Kapitel 5: Anonyme Urnenhaine und virtuelle Erinnerungsorte: der Tod in der postindustriellen Gesellschaft

Die gesellschaftlichen, kulturellen und technischen Veränderungen im postindustriellen Zeitalter haben alte, über Jahrzehnte hinweg eingeschliffene Denk- und Verhaltensmuster aufgelöst. Neben und abseits der gewohnten Institutionen sind neue Lebenswelten entstanden, die mit Stichwörtern wie Individualität, Flexibilität, Pluralität und ziviles Engagement charakterisiert werden. Soziologen wie Ulrich Beck konstatieren eine durchgreifende Partikularisierung der Lebenswelten im postindustriellen Zeitalter.i Sie beruht auf grundlegenden Veränderungen der sozialen und wirtschaftlichen Koordinaten: verringerte Wochen- und Lebensarbeitszeit, Job-Denken statt lebenslangem Beruf, nachlassende Bedeutung familiärer Bindungen, rasch wachsende Mobilität und Kommunikationsmöglichkeiten über alle räumlichen Grenzen hinweg,. Der Sozialhistoriker Eric J. Hobsbawm drückte es radikal pessimistisch aus: "Die ... in mancher Hinsicht verstörendste Transformation war die Auflösung der alten Sozial- und Beziehungsstrukturen und, Hand in Hand damit, das Zerbersten der Bindeglieder zwischen den Generationen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart also. Besonders deutlich trat dies in den fortgeschrittensten Staaten des westlichen Kapitalismus zu Tage, wo staatliche wie private Ideologien zunehmend von den Werten eines absolut asozialen Individualismus dominiert wurden ..."ii

Diese Veränderungen im postindustriellen Zeitalter berühren auch den Umgang mit dem Tod. Dabei treten ganz unterschiedliche, ja widersprüchliche Entwicklungen hervor: einerseits die rasant zunehmende Zahl von namen- und zeichenlosen Rasenbeisetzungen ("anonyme Bestattung"), andererseits ganz neue Orte von Trauer und Erinnerung, wie die digitalen Gedenkseiten im Internet.

Wir sahen im zweiten Kapitel, dass bereits die Friedhofs- und Grabmalreform des frühen 20. Jahrhunderts die Individualität des Totengedenkens auf den Begräbnisplätzen stark eingeschränkt hat. Feuerbestattung und Aschenbeisetzung verstärkten diese Tendenzen. Aber erst der im späten 20. Jahrhundert einsetzende Trend zur namen- und zeichenlosen Rasenbeisetzung führt zur Auflösung jeglicher Form individueller Erinnerung. Die Rasenbeisetzung bedeutet das Ende der klassischen, auf das bürgerliche Zeitalter des 19. Jahrhunderts mit seinem Grabmalkult zurückgehenden Gedächtniskultur auf den Friedhöfen.

Spätestens seit den 1990er-Jahren gibt es praktisch überall starke Zuwachsraten für das anonyme Rasengrab, manchmal von mehreren 100%. Nach wie vor zeigt sich allerdings ein starkes Nord-Süd-Gefälle, denn in Baden-Württemberg und Bayern ist die Rasenbeisetzung bislang kaum verbreitet. Konfessionelle Fragen spielen eine wichtige Rolle: Ebenso wie die Feuerbestattung, ist auch das anonyme Rasengrab in protestantischen Regionen deutlich verbreiteter als in katholischen.iii

Die Varianten des Rasengrabes sind vielfältig. In der Regel wird die Asche in einer zweckentsprechend kleinen Urne unter Rasensoden auf einer gärtnerisch gestalteten Anlage beigesetzt. Wenn es sich auch meist um Aschenbeisetzungen handelt, so gibt es die anonyme Rasenbestattung auch als Erdgrab. Meist schmückt ein Gemeinschaftsdenkmal die Anlage - wenn nicht dort, so können an anderen Stellen Blumen oder Ähnliches abgelegt werden. Die Bestattung selbst findet häufig als Einzel- oder Sammelbeisetzung ohne Angehörige statt, also als rein technischer Akt durch die Friedhofsverwaltung. In anderen Fällen werden die Beisetzungen in Anwesenheit von Hinterbliebenen vollzogen.iv

Vielfältig wie die Erscheinungsformen der Rasenbeisetzung sind ihre Begriffe. In der Öffentlichkeit hat sich die Bezeichnung "anonyme Bestattung" eingebürgert - sie ist jedoch aus mehreren Gründen unpräzise: einerseits handelt es sich nur in Ausnahmefällen um wirkliche Anonymität, denn zumindest die Friedhofsverwaltung kennt den genauen Beisetzungsort. Zum anderen hat sich eine Palette von verschiedenen Spielarten und Mischformen der Rasenbeisetzung entfaltet, bei denen manchmal gemeinschaftliche Namenstafeln auf der Anlage zu finden sind. Jenseits aller begrifflichen Probleme verändert die Rasenbeisetzung das Erscheinungsbild der Friedhöfe entscheidend. An Stelle der bisherigen Grabsteinlandschaften entstehen freie Rasenflächen. Die Bestattungsfläche pro Einwohner wird in den Friedhofsplanungen stetig reduziert - die freiwerdenden Räume stehen für andere Nutzungen zur Verfügung.

Die anonyme Rasenbeisetzung ist übrigens mit der quantitativ weniger bedeutenden, gleichwohl zunehmenden und vor allem in Norddeutschland bekannten Seebestattung vergleichbar. Bei dieser Bestattungsart, deren Anteil Ende des 20. Jahrhunderts bei nicht mehr als rund 0,5% lag (absolut etwa 5.000 Seebestattungen),v wird eine Urne aus wasserlöslichem Material an einem bestimmten, hier für die Angehörigen allerdings kartografisch fixiertem Ort auf hoher See vom Schiff aus versenkt.

Die Rasenbeisetzung ohne indivduelles Erinnerungszeichen hat sich in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts als reguläre Bestattungsform etabliert. Sie gilt als preiswert und praktisch, weil keine Grabpflege nötig ist - Letzteres scheint angesichts zunehmender gesellschaftlicher Mobilität von ausschlaggebender Bedeutung. Zunächst vor allem eine Angelegenheit von nord- und ostdeutschen Großstädten, hat sie sich inzwischen in mittlere und kleinere Orte ausgebreitet. In Norddeutschland machte sich der skandinavische Einfluss bemerkbar, wo die Rasenbeisetzung bereits seit langem bekannt ist. war. In den östlichen Bundesländern wirkt die Tradition der DDR nach, wo das anonyme Rasengrab aus ideologischen Gründen gefördert wurde. Als so genannte Urnengemeinschaftsanlage entsprach es der staatssozialistischen Vorstellung einer gleichen Bestattung für alle. Spätestens seit den 60er-Jahren gehören diese Anlagen zum festen Bestandteil der Friedhöfe. Gelegentlich werden auf einem Gemeinschaftsdenkmal die Namen aller Bestatteten verzeichnet. Auf anderen Friedhöfen gibt es so genannte Jahresfelder, bei denen ein Stein den Ort der Bestattungen eines jeden Jahres markiert. Auf dem Leipziger Südfriedhof beispielsweise haben sich aus einem bereits früher angelegten anonymen Urnengarten seit 1960 mehrere Urnengemeinschaftsanlagen entwickelt. Blumen- bzw. rasengeschmückt und jeweils mit einem Denkmal versehen, haben sie stetig wachsenden Zuspruch gefunden, sodass der Anteil der anonymen Beisetzungen in den 90er-Jahren auf dem Leipziger Südfriedhof bereits bei 50% lag.vi

Im Zusammenhang mit der Feuerbestattung wurden Formen anonymer Beisetzung übrigens schon im frühen 20. Jahrhundert diskutiert und praktiziert. In den 1920er-Jahren propagierte der Dresdener Stadtbaurat Paul Wolf ein gemeinsames monumentales Aschengrab statt einzelner Grabstätten.vii Vom Leipziger Südfriedhof ist der bereits erwähnte, 1930 eingerichtete Urnengarten mit anonymer Beisetzung bekannt, allerdings nur für Sozialfälle und Anatomieleichen.viii

Bereits in der Zeit der Französischen Revolution gab es utopische Projekte, die die anonyme Bestattung vorwegzunehmen schienen. Zu den spektakulärsten Beispielen gehört ein aus dem Jahr 1796 stammendes Pariser Projekt. Der Architekt Pierre Giraud entwarf eine fabrikähnliche Bestattungsanlage mit einer Pyramide als Mittelpunkt eines runden Landschaftsparks, der von Arkaden umsäumt wird.ix Mithilfe der so genannten Vitrifikation - einem seit dem 17. Jahrhundert bekannten chemischen Verfahren - sollten die Gebeine im Inneren der Pyramide in eine feste glasartige Substanz umgewandelt werden. Individuelle Grabmäler entfielen, die Pyramide war das gemeinsame monumentale Erinnerungszeichen.x

Dieses Projekt blieb damals Utopie. Bekanntlich realisiert dagegen wurde der im zweiten Kapitel bereits erwähnte Neue Begräbnisplatz von 1787 in Dessau. Abgesehen von seiner gepflegten Ästhetik galt er mit seiner namen- und zeichenlosen Rasenfläche im späten 18. Jahrhundert als Modell eines aufgeklärt-modernen Friedhofes. Der Dessauer Begräbnisplatz verkörperte ein egalitäres Gesellschaftsideal, Goethe setzte ihm in den "Wahlverwandtschaften" ein literarisches Denkmal.xi Und es ist vielleicht mehr als nur eine historische Randbemerkung wert, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Asche der Hauptkriegsverbrecher bei den Nürnberger Prozessen nach ihrer Hinrichtung anonym verstreut wurde, um zu verhindern, dass die Grabstätten zu Pilgerorten werden.

Seit den 1990er-Jahren ist die anonyme Rasenbeisetzung zum Thema eines öffentlichen Diskurses geworden. Kulturkritisch ist vom "Verfall" der Bestattungskultur die Rede. Der Rasenbeisetzung wird in der Regel die familienbezogene Grabstätte als klassicher Ausdruck von Trauer gegenübergestellt. Der Widerstand gegen die Rasenbeisetzung erinnert an die Polemiken um die Feuerbestattung im späten 19. Jahrhundert. Sind es in einigen Fällen materielle Interessen einzelner Lobbygruppen, die mit der traditionellen Bestattungskultur verteidigt werden, beispielsweise bei Steinmetzen und Friedhofsgärtner, so geht es darüber hinaus um ideologische Grundsatzfragen. Gerade viele Kirchenvertreter wenden sich mit Vehemenz gegen die anonyme Bestattung. So schrieb die katholische Deutsche Bischofskonferenz in einer 1994 erstmals erschienenen Schrift zur Bestattungskultur: "Von Friedhofskultur aber kann man nur sprechen, wenn der Friedhof eindeutig und klar als solcher zu erkennen ist, wenn die Bestattung der Toten und die Erinnerung an sie wieder im Mittelpunkt stehen."xii

Allerdings: Das von den Kritikern verfochtene Ideal des individuellen Grabmals für alle ist auch nur eine historisch bedingte sepulkrale Ausdrucksform gewesen - Ausdruck jener bürgerlichen Gesellschaft, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert entfaltet hatte. Mit dem Ende der bürgerlichen Moderne wird nun auch der Abschied von deren Erinnerungskultur vollzogen wird, die ihren Höhepunkt im Grabmalkult des 19. Jahrhunderts gefunden hatte.

Es scheint, als würde sich heute in der Rasenbestattung - für jeden sichtbar - materialisieren, dass in der nachindustriellen Gesellschaft die Begriffe Vergangenheit, Erinnerung und Gedächtnis ihre Bedeutung verlieren. Die anonyme Bestattung ist die Ausdrucksform einer mobilen Gesellschaft, in der eine besondere emotionale Bindung an bestimmte Gedächtnisorte keinen Sinn mehr macht. Wie schrieb der bereits zitierte Eric J. Hobsbawm: "Am Ende dieses [20.] Jahrhunderts war es zum ersten Mal möglich, sich eine Welt vorzustellen, in der die Vergangenheit ... keine Rolle mehr spielt, weil die alten Karten und Pläne, die Menschen und Gesellschaften durch das Leben geleitet haben, nicht mehr der Landschaft entsprachen, durch die wir uns bewegten ..."xiii

Diese Entwicklungen zeugen auch davon, dass sich die Beziehungen zu den Erinnerungsorten in einem grundlegenden Sinn verändert haben - und damit auch zu den Orten von Tod und Trauer. Die neuen, partikularisierten Lebenswelten zeigen eher transitorischen Charakter. Sie lassen sich mit jenen "Nicht-Orten" vergleichen, wie sie der französische Ethnologe Marc Augé beschrieb. Sie werden in Bezug auf bestimmte Zwecke konstituiert, man geht zu ihnen eine nur mehr flüchtige Beziehung ein. Diese funktionalen Nicht-Orte konstituieren keine festen Lebenszusammenhänge mehr, sondern sind Durchgangsstationen.xiv Das Flüchtige wird zum Selbstverständlichen und lässt alles Dauerhafte als historisches Relikt erscheinen.

Die namenlose Rasenbestattung ist ein charakteristischer Ausdruck dieser neuen Lebenswelten. Dass Orte die "Erinnerung festigen und beglaubigen, indem sie sie lokal im Boden verankern", wie Aleida Assmann schrieb,xv wird angesichts des immer rascheren räumlichen Wandels zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einem Anachronismus. Die Friedhöfe führen dies anschaulich vor Augen: Der steinern gewordene bürgerliche Tod des 19. Jahrhunderts, wie er sich in den allmählich verfallenden, zuweilen monumentalen Familiengrabstätten gezeigt hat, wird zunehmend überformt von den freien weiten Feldern der zeichenlosen Rasenbeisetzung.

Aber diese anonymen Urnenhaine sind nicht die einzigen neuen Orte des Todes geblieben. Das digitale Zeitalter kennt auch digitale Gedenkstätten: "Hall of Memory", "World Wide Cemetery", "Garden of Remembrance" oder "Virtual Memorial Garden" sind die Namen virtueller Friedhöfe im Internet. Eigentlich ist nach dem bisherigen Verständnis der Begriff "Friedhof" unangemessen, schließlich finden keine Beisetzungen statt. Statt an Friedhöfe erinnern diese virtuellen Gedenkseiten eher an die Epitaphien mittelalterlicher Kirchen, die unabhängig vom eigentlichen Bestattungsort dem Totengedächtnis dienten. Manche dieser virtuellen Grabmäler umfassen seitenlange (Lebens-) Geschichten, persönliche Dokumente wie Tagebuchaufzeichnungen, Fotos, Videos, Musik, Erinnerungsobjekte. Die Möglichkeit, elektronische Botschaften zu hinterlassen, erinnert an die Kieselsteine, mit denen die Besucher jüdischer Friedhöfe den Toten ihre Reverenz erweisen. In ihrer Gesamtheit werden die Gedenkseiten mit einer riesigen labyrinthischen Erinnerungsstätte verglichen, in deren bisweilen mehreren tausend Einträgen man beliebig "spazieren" kann. Jenseits dieser privaten Gedenkseiten gibt es auch solche für berühmte Verstorbene sowie kollektive Erinnerungsseiten, zum Beispiel für Kriegsgefallene.

Zu den wichtigsten kommerziellen Anbietern in Deutschland gehört die im Jahr 1998 eingerichtete "Hall of Memory", auf deren Eingangsseite es heißt: "In lebendiger Form gestaltet, bleiben alle wichtigen Informationen über den Verstorbenen hier 30 Jahre lang der Nachwelt erhalten. Sei es als Memorial-Gedenkstätte, als Nachruf mit Bildern und Sprache, als Kurzbiographie mit Filmen oder als individuell gestaltete künstlerische Büste." Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, einen persönlichen Eintrag zu entwerfen. Für die Standardgedenkstätte stehen wahlweise Motive zur Verfügung, aber man kann auch ein Relief des Verstorbenen zeichnen und das Lieblingsgemälde oder die Lieblingsmusik einspielen lassen. Umgekehrt kann jeder Besucher, wie im Internet üblich, interaktiv handeln. Er kann per elektronischer Post Kondolenzkarten versenden oder virtuelle Blumengebinde hinterlegen. Über das private Totengedenken hinaus öffnet die "Hall of Memory" den Weg für neue Vermarktungsmechanismen und Formen der Kommerzialisierung. So sind die Anschriften verschiedener fachspezifischer Unternehmen abrufbar - von Bestattern bis zu Trauerseminaren.

Gerade die Internet-Gedenkstätten zeigen, wie rasch sich Trauer und Erinnerung verändern und sich gesellschaftlichen Entwicklungen anpassen: "Virtuelle Friedhöfe als Teil eines globalen kommunikativen Netzes setzen die private und die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Tod in eine neue Beziehung zueinander und stellen daher einen soziokulturellen Indikator gegenwärtiger Erinnerungs- und Trauerkultur dar."xvi

Wie eine Untersuchung zeigte, sind es vor allem Angehörige der sozialen Bildungselite, die etwa das Angebot der "Hall of Memory" nutzen. So verweisen die Gründe für die Einrichtung und Nutzung virtueller Gedenkseiten, wie bereits bei der Rasenbeisetzung, auf die partikularisierten Lebenswelten der mobilen Gesellschaft - zum Beispiel die weite Distanz zwischen Grabstätte und Wohnort der Hinterbliebenen. Die Funktion bleibt erhalten, aber das Medium ändert sich: "Der virtuelle Friedhof als Ersatzraum simuliert so die Funktionen des realen Friedhofs als legitimen Ort der Trauer und des sozialen Austauschs; er löst diese Funktionen allerdings aus den mit ihnen verbundenen sinnlichen Erfahrungen und verlagert sie auf die kommunikative Ebene."xvii

Gleichwohl bleiben die Unterschiede zwischen den Internet-Gedenkstätten und den traditionellen Orten des Todes grundlegend. Auf den Friedhöfen ist der Tod nach wie vor etwas Reales, denn der Leichnam befindet sich an Ort und Stelle (und sei es in eingeäscherter Form). Bei den Internet-Gedenkstätten hingegen spielt der tote Körper keinerlei Rolle - es bleibt ohne Bedeutung, wo die eigentliche Bestattung geschah. Das Internet ist somit ein "entkörperlichter" Ort von Trauer und Gedächtnis. Zugleich ist dieser virtuelle Gedächtnisort stets veränderbar. Im Gegensatz zu den steinernen Grabmälern des bürgerlichen Zeitalters kann er den wechselnden Stadien von Trauer, Verlustbewältigung und Erinnerung immer wieder neu angepasst werden.xviii Eingangs dieses Abschnitts war vom Flüchtigen und Vergänglichen die Rede, welches alles Dauerhafte überformt: "Die Digitalisierung des Biologischen lehrt uns auf neue Art, dass unser Leben flüchtig ist. Der Mensch des 21. Jahrhunderts unterwirft sich auch physisch dieser fortwährenden Mobilität. Ein individuell fixierbarer Standort ist auch nach dem Leben nicht mehr fassbar."xix

Denkbar wäre künftig folgendes, der postindustriell-mobilen Gesellschaft als angemessen erscheinendes Szenario: eine kostengünstige Rasenbestattung ohne Grabmal auf einem städtischen Friedhof, gleichzeitig eine aufwändig gestaltete Gedenkseite im Internet, die von allen Orten zugänglich ist. Das Totengedächtnis hätte sich damit endgültig von den klassischen Orten der Trauer, von den Friedhöfen und Grabstätten, gelöst: "Sollte dieses Szenerio Realität werden, haben Friedhöfe wirklich nur noch die Funktion einer Parkanlage, auf der namenlos sterbliche Überreste ‚entsorgt‘ werden."xx

Unter einem anderen Aspekt erweisen sich die virtuellen Gedenkseiten allerdings als überraschend traditionsorientiert: Sie sind häufig wie Grabmäler gestaltet. Auch versuchen sie analog zum bürgerlichen Grabmalkult des 19. Jahrhunderts, den Tod zu überwinden, indem sie ihn in der Feier der diesseitigen Erfolge und der dauerhaften Erinnerung verewigen. Und in ihrer offenen, Leben und Tod auch bildlich miteinander verknüpfenden Form erinnern viele Einträge an jene Fotografien, die häufig auf katholischen Grabstätten zu finden sind. Es ist - im Gegensatz zu den sonst üblichen, sprach- und symbolarmen Grabsteinen und erst recht im Gegensatz zur zeichenlosen Bestattung - eine Erinnerung an den Toten als Lebenden. Aber, so gibt der Kunsthistoriker Hans Belting zu bedenken: "Die Schnappschüsse, mit denen wir nur den unaufhaltsamen Fluss der Zeit auf einen Augenblick unterbrechen, sind auswechselbare Spiegelbilder des flüchtigen Ich. Die Selbsterinnerung ist nur eine Vorübung, aber keine Bewältigung des Todes."xxi

Beltings Mahnung weist auf die gesellschaftlichen Probleme im Umgang mit dem Tod. Die demographischen Entwicklungen, insbesondere die gestiegene Lebenserwartung, haben die konkrete Erfahrung des Todes verändert. Viele Menschen leben heute jahrzehntelang, ohne im engeren familiären Umfeld jemals mit dem Tod konfrontiert worden zu sein. Notgedrungen sind daher die alltäglichen Vorstellungen vom Tod aus zweiter Hand, von den Medien, geprägt. Hier allerdings, vor allem im Fernsehen, ist der Tod stets präsent. Das führt nicht zuletzt dazu, dass man sich den Tod im Allgemeinen als fiktiv oder dokumentarisch dargestellten Gewaltakt vorstellt: als Unfall, Mord, Krieg oder Naturkatastrophe. Der "normale" Tod ist nur dann interessant, wenn er Prominente betrifft. Im Kino war das Thema Tod für Regisseure wie Pier Paolo Pasolini und Akira Kurosawa werk- und stilprägend. Andererseits ist der Tod als solcher kaum "filmbar" - eher schon die Krankheit oder der Unfall, der zum Tod führt. Der Tod selbst widersetzt sich der filmischen Abbildung. Er kann nur umschrieben werden, etwa durch Blutspuren auf der Straße oder zurückgebliebenes Kinderspielzeug.xxii

Im Übrigen scheint es eine beruhigende, wenngleich trügerische Vorstellung, dass Sterben und Tod medizinisch kontrollierbar geworden sind. Der Soziologe Klaus Feldmann schrieb in seiner 1990 erschienenen Studie über "Tod und Gesellschaft", dass diese Kontrolle des Todes Ergebnis der Rationalisierungs- und Modernisierungprozesse ist: "Der zentrale objektive Unterschied zwischen modernen und traditionellen Geselschaften besteht in der Art und Wirksamkeit der Kontrolle des Todes. ... Auch die mit dem Sterben verbundenen Leiden und Probleme unterliegen einer starken medizinischen, rechtlichen und bürokratischen Kontrolle in modernen Gesellschaften."xxiii

Diese Bürokratisierung hat den Menschen ihren Tod aus den Händen genommen. So ist es weniger die häufig beschworene "Verdrängung" als vielmehr eine Art Enteignung, die den modernen Umgang mit dem Tod prägt. Bestattungsunternehmen und Friedhofsverwaltung haben ihn unter sich aufgeteilt. Daher fehlt es an konkreter Erfahrung und Sprache im Umgang mit dem Tod. Die zunächst entlastende Wirkung bürokratischer Abläufe hat zur Unfähigkeit geführt, Tod und Trauer eigenständig zu verarbeiten. In Abwandlung der These eines bekannten Buches von Norbert Elias ("Über die Einsamkeit der Sterbenden") schrieb der Sozialwissenschaftler Zygmunt Bauman: "Die Sterbenden sterben weniger einsam als vielmehr schweigend. Es gibt nichts, worüber wir in der einzigen Sprache, von uns beherrschten Sprache und geteilten Sprache mit ihnen reden könnten - der Sprache des Überlebens. Die Unmöglichkeit eines Gesprächs, das Schweigen zwischen uns, die kleinmütige, die Ohnmacht verbergende Stille ist die tiefste Ursache der Verlegenheit. Unsere gewöhnliche Findigkeit und Betriebsamkeit haben uns im Stich gelassen, und dessen hat man sich in einer Welt zu schämen, die menschliche Qualitäten an dem Können misst, das sich in der Effizienz und Effektivität des Handelns zeigt."xxiv

So scheint der Tod von einer öffentlichen zu einer intimen Angelegenheit, zu einem randständigen Ereignis geworden zu sein. Trauer findet in der intimen Zurückgezogenheit familiärer Zusammenhänge statt, im öffentlichen Leben ist sie nicht erwünscht. Feste Normen für das Verhalten im Sterbe- und Trauerfall gibt es kaum noch.xxv

Spektakuläre Ausnahmen bestätigen die Regel. Dies wurde in der medienwirksam inszenierten Trauer um die tödlich verunglückte Prinzessin Diana im Jahr 1997 deutlich. Das Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit, dass diesem einzelnen, auf Grund der Umstände sicherlich besonders tragischen Todesfall gewidmet und durch die Medien transportiert wurde, verwies nicht zuletzt auf jene emotionalen Defizite, die die moderne Rationalität im Umgang mit dem Tod hervorgebracht hat.xxvi

Das Unvermögen, dem Tod konkret ins Auge zu sehen, hat nachhaltige Auswirkungen auf den Umgang mit dem Leichnam. Bis heute genießen Berufe, die direkten Kontakt mit den Verstorbenen haben, kein hohes Sozialprestige. Die Ethnologin Sabine Helmers, die diese Professionen untersuchte, schrieb: "Durch die Nähe zum Gefahrenbereich ,Leiche‘, die körperliche Berührung mit den Toten, wird die ,Unreinheit‘ auf die Handelnden übertragen, gleichgültig ob bei der Arbeit Schutzhandschuhe getragen werden oder nicht. Kommt dann noch die Verletzung, Beschädigung der Unversehrtheit der Körper hinzu, wie dies etwa für anatomische oder innere Leichenschauen erforderlich ist, so ist die Tabuverletzung und damit einhergehend die Verfemung deutlich stärker. ... Anatomen, Pathologen, Rechtsmediziner sind in erster Linie Mediziner und erfahren ihre Statuszuweisung von dieser Seite. Die nichtwissenschaftlichen Helfer, denen die groben, schmutzigen Tätigkeiten obliegen, trifft die Verfemung in besonderem Maße."xxvii

So arbeiten Mitarbeiter der Bestattungsunternehmen, Leichenhallen und Krematorien in regelrechten Tabuzonen. Entsprechend funktional ist in der Regel der Umgang mit den Verstorbenen. In städtischen Leichenhallen und Krematorien gibt es kollektive Aufbahrungsräume für die Verstorbenen. In großen Städten hat dies zu einer regelrechten Massenlagerung geführt, wenn die Toten in Metallwannen gelegt und in serialisierte Kühlfächer geschoben werden. Diese Räumlichkeiten sind nur für das Fachpersonal, nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. In Krematorien dauert es gelegentlich Wochen, bis ein gelagerter Leichnam zur Einäscherung gelangt.

Bürokratisierung und Effizienzdenken der Moderne haben dazu beigetragen, dass die Abläufe bei Tod und Bestattung in funktionale Einzelelemente zerlegt worden sind. Verstärkend haben die anhaltenden Säkularisierungstendenzen gewirkt - vor allem in Großstädten kirchliche Zeremonien wurden reduziert oder gar gänzlich ersetzt. Immer mehr Trauerfeiern sind nicht-kirchlich und werden von weltlichen Trauerrednern durchgeführt. Als besonders gravierend erwies sich die Entkirchlichung in der ehemaligen DDR. In Ost-Berlin waren im Jahr 1976 bereits 77,5% aller Bestattungen nicht-kirchlich. In der DDR wurde den Betrieben die Aufgabe übertragen, Trauerfeiern für verstorbene Mitarbeiter zu gestalten. Im Zentrum stand dabei eine weltliche Rede, "die eine Würdigung des Verstorbenen und seine Kennzeichnung als Mitglied der sozialistischen Gesellschaft einschloß".xxviii

Trotz allem lässt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Umgang mit dem Tod nicht allein auf funktionale Routine reduzieren. Gewiss: Die Bestattung ohne oder mit stark reduzierten Zeremonien ist verbreitet, das namenlose Grab gewinnt - wie wir sahen - stetig an Bedeutung. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Vor allem seit den 1990er-Jahren haben sich auch gegenläufige Tendenzen entfaltet. Innovative Muster entstehen, Tabus werden aufgebrochen. Zwischen Leben und Tod werden neue gesellschaftliche Bindeglieder geschaffen, Sterben, Tod und Trauer zunehmend als ganzheitliches Phänomen betrachtet. Zum Katalysator dieses Prozesses wurden einzelne gesellschaftliche Gruppen. Dies gilt etwa für die AIDS-Selbsthilfebewegung. Die Krankheit AIDS hat Sterben und Tod im Bewusstsein vieler, gerade junger Menschen verankert und zu einer besonders reflektierten, solidarischen Einstellung geführt. Beispielhaftes Zeugnis sind jene Gemeinschaftsgrabstätten für AIDS-Tote, wie sie auf städtischen Friedhöfen eingerichtet wurden (auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg beispielsweise seit 1995).

Auf vergleichbare Weise wurde ein bisheriges Tabuthema vor die Augen der Öffentlichkeit gerückt: die Bestattung von Fehl- und Totgeburten. Jährlich kommen mehrere tausend Kinder als Totgeburten zur Welt. Als Totgeburt gelten Kinder mit einem Geburtsgewicht von mehr als 500 Gramm, nur für diese Kinder gilt auch ein Bestattungszwang. Letzteren gibt es hingegen für "Fehlgeburten" nicht, also tot geborenen Kinder unter 500 Gramm. Diese Föten sind wie Abfall "entsorgt", oft auch auch für medizinische Zwecke verwertet worden. Ziviles Engagement führte an verschiedenen Orten dazu, dass Gedenk- und Erinnerungsstätten für tot- und fehlgeborene Kinder entstanden. Grundidee ist, für Eltern und andere Hinterbliebenen grundsätzlich auch dann einen Ort der Trauer zu schaffen, wenn nicht bestattet wurde. Inzwischen gehen auch immer mehr Kliniken dazu über, Tot- und Fehlgeburten auf den Friedhöfen regulär zu bestatten - die gesetzlichen Regelungen sind in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich.

Für eine neue, ganzheitliche Einstellung zum Sterben engagiert sich die Hospizbewegung. Seit Ende der 1960er-Jahre von Großbritannien aus sich weltweit entfaltend, hat sie in Deutschland erst Jahrzehnte später gesellschaftliche Bedeutung erlangt und ist seitdem in zahlreichen lokalen Gruppen sowie in überregionalen Verbänden organisiert. Die Hospizbewegung vertritt ein ganzheitliches Konzept der Sterbebegleitung und wendet sich gegen die medizintechnische Ausgrenzung der "Austherapierten", also der unheilbar Kranken. Die Hospizler respektieren auch den Totkranken als Menschen und versuchen, die Bedürfnisse seiner letzten Lebensphase ernst zu nehmen. Die Sterbesituation wird offen als solche akzeptiert und nicht verbrämt. Statt medizinischer Lebensverlängerung um jeden Preis wird lindernde Pflege geboten, wobei das persönliche Lebensumfeld in die Sterbesituation möglichst einbezogen bleibt. So findet die Betreuung Sterbender häufig ambulant in der eigenen Wohnung statt, sonst im stationären Hospiz. Eine zentrale Rolle spielt die Verknüpfung von professionellem Fachwissen und ehrenamtlichem Engagement. Mediziner, Krankenpfleger, Sozialarbeiter, Seelsorger und andere arbeiten mit ehrenamtlichen, speziell geschulten Helfern zusammen. Der Hospizbewegung verwandt ist die Palliativmedizin, die innerhalb der Krankenhäuser durch psychosoziale Betreuung und die Gabe schmerzlindernder Mittel Schwer- und Schwerstkranken eine würdevolle letzte Lebensphase zu ermöglichen versucht.xxix

Wie auch die anderen, oben geschilderten Beispiele zeugt die Hospizbewegung von jenem zivilen Engagement, das eine neuartige Humanität, Solidarität und Selbstbestimmung nach sich gezogen hat. Eben diese Aspekte zählen zu den wichtigsten Bausteinen eines neuen Umgangs mit dem Tod. Sie speisen jene Fantasie und Kreativität, die zu veränderten kulturellen Mustern führt. Immer mehr Beispiele zeugen davon, dass die funktionale Routine im Umgang mit dem Tod überwunden und der individuelle Einzelfall in den Mittelpunkt gestellt wird. Allgemein wird mittlerweile von einer - so der Titel eines grossen Kongresses im Jahr 1998 - "neuen Kultur im Umgang mit Tod und Trauer" gesprochen.xxx

Im Zuge dieser Entwicklung sind - jenseits der Leichenhallen, Krematorien und Friedhöfen - neue Formen praktischer Trauer entstanden. Statt in Friedhofskapellen werden gemeinschaftliche Trauer- und Erinnerungsfeiern in entsprechend gestalteten Privaträumen durchgeführt, statt christlicher Liturgie persönliche Texte und Musik in die Trauerfeiern integriert. In Krankenhäusern und Pflegeheimen finden sich inzwischen immer häufiger spezielle Aufbahrungs- und Trauerräume. Auch Bestattungsunternehmer bieten individuelle Aufbahrungen schon vor der Trauerfeier an, um einen (vor-) letzten Abschied zu ermöglichen. Hinterbliebene werden aufgefordert, ihren Toten selbst das Sterbekleid anzulegen und den Sarg selbst anzumalen.

Katalysatorische Wirkung haben dabei Entwicklungen in benachbarten Ländern. Die private Aufbahrung zu Hause ist in den Niederlanden beispielsweise bis zu fünf Tage möglich - die Bestattungsunternehmen verleihen spezielle Kühlutensilien, um eine hygienisch einwandfreie Aufbahrung zu ermöglichen. In Großbritannien dienen private Ruhekapellen, die in den Räumlichkeiten der Bestatter eingerichtet wurden, dem letzten Abschied im kleinen Kreis dienen.xxxi

Die neue Kultur im Umgang mit dem Tod hat auch den öffentlichen Raum erobert. Ein besonders auffälliges Beispiel sind jene "Kreuze am Straßenrand", die an einen tödlichen Verkehrsunfall erinnern. Sie stellen eine neue Form alltäglicher Erinnerungskultur angesichts des Todes dar. In einer kulturwissenschaftlichen Untersuchung wurden diese Erinnerungsstätten als "Markierungen des Todes in der Landschaft" interpretiert, die in die Tradition des "gestalteten Raumes" (Sühnekreuze, Marterln) einzuordnen sind. Sie verkörpern eine hohe emotionale Bedeutung, weil sie sowohl individuelle Orte der Trauer und Erinnerung sind als auch eine öffentliche Mahnung an die Lebenden darstellen. Ihre regelmäßige Pflege zeigt, dass sie mehr sind als nur tagesaktuelle Erinnerungszeichen mit raschem Verfallsdatum, mehr als ein Ausdruck nur privater Trauer bedeuten: "In der Öffentlichkeit des Straßenraums stehend, machen sie vor allem Menschen, die nicht zur Gruppe der direkt Betroffenen gehören, auf den Todesort aufmerksam. ... Mit den Erinnerungsstätten, die sich fast ausnahmslos im regionalen Umfeld der betroffenen Familien befinden, wird eine regionale Öffentlichkeit angesprochen."xxxii

Die Straße ist ein Raum, der wie nur wenige andere als Symbol der mobilen Gesellschaft gilt. Die "Kreuze am Straßrenrand" sind ein individueller und kreativer Akt der Trauerarbeit, der bisweilen gegen den Widerstand der Aufsichtsbehörden durchgesetzt werden musste: "Die öffentlichen Erinnerungsstätten für Verkehrstote sind ... als ein Gegenentwurf zum immer anonymer werdenden Sterben und Trauern in unserer Gesellschaft anzusehen. Dieses Gedenken kann als eine besondere Form der Trauerarbeit in der mobilen Gesellschaft angesehen werden."xxxiii

Aber auch die klassischen Orte von Tod und Trauer verändern sich, wie die Friedhöfe. Von der wachsenden Zahl der Rasenbeisetzungen war bereits eingangs dieses Kapitels die Rede. Für eine Auflockerung der bislang herrschenden Routine hat aber auch der Einfluss anderer Kulturen und Religionen gesorgt. Es gibt mittlerweile zahlreiche islamische Gräberfelder auf deutschen Friedhöfen. Moslemische Bestattungstraditionen werden immer häufiger berücksichtigt, obwohl ihnen in Deutschland die starren bürokratischen Vorschriften entgegenstehen. Die Toten müssen nämlich nach moslemischem Ritual in Leinentüchern beigesetzt werden. Das war bisher in Deutschland verboten, aber inzwischen sind die Vorschriften gelockert worden. In Hamburg beispielsweise wurde der Sargzwang auf Friedhöfen für moslemische Bestattungen 1998 aufgehoben.xxxiv

Im Übrigen gibt es immer wieder Versuche, die bislang so stark reglementierten Grabstätten individueller zu gestalten. Es scheint, als bräche die jahrzehntelange, mit der so genannten Friedhofsreform in den 1920er-Jahren begonnene bürokratische Reglementierung der Friedhofs- und Grabmalkultur allmählich auf. So sieht es aus, als könne auch das Erscheinungsbild von Friedhöfen, das im 20. Jahrhundert im Wesentlichen "von oben" geplant und geregelt wurde, wieder abwechslungsreicher werden. Darüber hinaus wird auch der Friedhof bewusst als "kultureller Raum" begriffen: Führungen, museale Grabmalanlagen, Nutzung der Gebäude für Veranstaltungen mögen hier als Beispiele genügen.

Damit zusammenhängend wird in Deutschland seit einiger Zeit in der Fachöffentlichkeit ein Diskurs über die "Krise der Friedhöfe" geführt. Der Friedhof als klassischer Ort des Todes wird infragegestellt, neue Bestattungsorte diskutiert. Die zunehmenden Rasenbeisetzungen, die von vielen erwünschte Aufhebung des Friedhofszwanges für Aschenbeisetzungen und die Funktion der Friedhöfe als Grünanlagen führten dazu, dass das klassische Erscheinungsbild als "Grabstein-Landschaft" zunehmend überholt erscheint.

Wichtige Anregungen kommen wiederum aus den Nachbarstaaten. Zu den bedeutendsten Innovationen zählt der sogenannte "Friedwald" - eine aus der Schweiz stammende Idee eines Begräbnisplatzes, die auf Natursehnsucht und ökologisches Bewusstsein zurückgreift. Die Idee dieser vom "Verein für Naturbestattung und Friedwald" betriebenen Anlagen besteht darin, die Aschenbestattung mit landschaftlich schöner Umgebung, vor allem aber mit Bäumen zu verbinden (in der Schweiz kann die Asche an jedem beliebigen Ort beigesetzt werden). Die erste dieser Anlagen wurde in Mammern (Kanton Thurgau) eingerichtet. Die menschlichen Überreste werden mittels einer Röhre in einen bestimmten, zuvor käuflich erworbenen und dann im "Friedwald" gepflanzten Baum eingelassen. In den Vereinsstatuten von 1998 heißt es dazu: "Ein Mitglied kann einen bestimmten Baum käuflich erwerben und auf einem vom Verein vorgesehenen Ort pflanzen lassen oder zur Pflanzung vorsehen. Zu diesem Zweck werden laufend Plätze ausgesucht und die geeigneten Baumarten darauf projektiert. ... Bei einem Todesfall wird die Asche in den Wurzelbereich des betreffenden Baumes eingebracht. Das Gleiche geschieht, wenn der Baum erst nach einem Todesfall gepflanzt wird."xxxv

Scheint der Friedwald inzwischen eine größere Wirkung zu entfalten, so muss eine andere, ebenfalls in der Schweiz beheimatete Form der "Naturbestattung" wohl eher als esoterische Spielerei bezeichnet werden. Gemeint ist das "Komitee Alp Spielmannda", das auf der genannten Alp im Freiburgerland eine Bestattungsfläche eingerichtet hat. Dabei wird die Asche Verstorbener ohne Urne im Mittelteil der Alp, der von Alpenrosenbüschen bewachsen ist, ohne Erinnerungszeichen in der Erde beigesetzt und anschließend der Natur überlassen. Als "Grabzeuge" wird ein Messingtaler mitvergraben, auf dem Name und Lebensdaten vermerkt sind. Andere, sichtbare Formen der Erinnerung sind ausdrücklich nicht gestattet.xxxvi Beide schweizerischen Beispiele der Naturbestattung sind übrigens vergleichbar mit den britischen "Green Burials", wo Sarg- und Aschenbestattungen in einem Wald vorgenommen werden.xxxvii

All dies erinnert an die Wendung zur Natur, wie sie bereits auf den Friedhöfen des bürgerlichen Zeitalters vollzogen wurde - nun unter dem Vorzeichen ökologischer Reflexion des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Immerhin: Auch zu Beginn des letzten Säkulums ging man über die künstlich modellierten Parkfriedhöfe einen Schritt hinaus und beließ - wie oben bereits beschrieben - auf dem Münchener Waldfriedhof die vorhandene Baumlandschaft in ihrem vorhandenen Zustand. Im Kontext von Hochindustrialisierung und Urbanisierung war die kompensatorische Sehnsucht nach vermeintlich unberührter, ursprünglicher Natur und Landschaft auch im Umgang mit den Toten verbreitet. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts geht es in einer hochmobilen und jeden Raum scheinbar erobernden Gesellschaft um kompensatorische Bedürfnisse, wenn Bestattungen in entlegenen Berglandschaften immer mehr Anklang finden.

Ein letztes Mal sei ein Blick ins Ausland geworfen, und zwar nach Japan. Die dortige Entwicklung zeigt - bei allen Unterschieden in der historischen Entwicklung - insofern Parallelen zu Deutschland, als es ebenfalls zu Umbrüchen innerhalb fest gefügt wirkender Strukturen gekommen ist. In Japan sind auf Grund der besonderen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen die traditionellen Formen der Bestattung stark ritualisiert. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Bestattungsinstitute, die die Tradition des aufwändigen, familienorientierten Begräbnisses pflegen. Die dadurch entstehenden hohen Kosten bildeten den Katalysator jener Veränderungen im Bestattungswesen, die sich seit dem späten 20. Jahrhundert zeigen. Sie überwinden bisherige Rituale ebenso wie das kostenaufwändige Familiengrab. Die Wahlfreiheit des Einzelnen steigt, die Bestattungskosten können durch eine wohl überlegte Vorausplanung besser kalkuliert werden. Damit beginnt sich das in Japan bisher so fest gefügte System der Konventionen und Rituale allmählich aufzulösen. Die traditionellen familiär-verwandtschaftlichen Beziehungen spielen eine immer geringere Rolle. Diese Ansätze einer liberaleren Bestattungspraxis heben zugleich das bisher starre System der Grabformen auf den Friedhöfen auf. In Japan wird dies dadurch erleichtert, dass es fast nur Einäscherungen gibt.xxxviii

Die Veränderungen in der japanischen Bestattungskultur zeigen eine auffallende zeitliche Parallelität zu den Entwicklungen in Deutschland und anderen westlichen Ländern. Auch hier zeichnen sich seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts grundlegende Umbrüche ab. Auch diese beinhalten die Auflösung vermeintlich fest gefügter Traditionen und weisen einer größeren Flexibiliät und Selbstbestimmung den Weg. In beiden Fällen spielen sowohl die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als auch finanzielle Aspekte eine entscheidende Rolle für Veränderungen in der Bestattungskultur.

Wir sahen etliche Beispiele, wie sehr der Umgang mit dem Tod gegenwärtig wieder einmal eine grundlegende Zäsur durchläuft. Die jahrzehntelang herrschende bürokratische Rationalität der Moderne hat nicht verhindern können, dass eingeschliffene Strukturen aufgebrochen und überwunden werden, dass neue Muster von Tod und Trauer entstehen. Diese sind in der Regel individualistischer als die reglementierte Routine, die uns bislang vertraut war. Auf Traditionalisten wirken sie oft verstörend - die neuen Orte des Todes nicht mehr in die "alten Landkarten". Mag sein, dass in der postindustriellen Gesellschaft "die von uns bewohnten Orte ... nur vorübergehende Stationen" sind, wie der Sozialwissenschaftler Zygmunt Bauman schrieb.xxxix Gleichwohl erweist sich bei allem Wandel der Trauerkultur das gesellschaftliche Bedürfnis, auf Vergänglichkeit und Tod mit etwas Überdauerndem zu antworten, als höchst lebendig.

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