3. Kapitel 2: Zwischen Vernunftdenken und emotionalem Pathos: Der Weg zum bürgerlichen Tod

Im späten 18. Jahrhundert sorgte die Veröffentlichung von Goethes "Die Leiden des jungen Werther" für einen regelrechten Kult um den Freitod. Dieser Briefroman gab offensichtlich die Gefühle einer ganzen Generation wieder - Liebe, Leidenschaften und Tod wurden ausgelebt. Es kam zu einer regelrechten Nachahmungswelle. Wie nur wenige gesellschaftliche Phänomene charakterisierte diese Poetisierung des Lebens die Befreiung des bürgerlichen Individuums vom engen Korsett christlicher Glaubenswelten. Der Freitod - bereits in der Antike von den Stoikern verfochten - wurde vom Christentum scharf bekämpft. Selbstmörder konnten kein "ehrliches Begräbnis" in der geweihten Erde des Friedhofs beanspruchen, sie kamen auf abseitige Plätze neben der Friedhofsmauer oder auf den Schindanger. Im Volksglauben der frühen Neuzeit war der Selbstmörder ein Feind der Gesellschaft, der Unglück heraufbeschwor. Im "Handwörterbuch des Aberglaubens" heißt es: "Der Einfluss der Kirche machte sich nach und nach sowohl im Recht als auch in der Auffassung des Volkes geltend: Der S.[elbstmörder] wird als Verbrecher behandelt, die Strafe wird am Leichnam vollzogen; er gerät in die Klasse der vorzeitig oder auf gewaltsame Art Verstorbenen, wird zum bösartigen Wiedergänger und darum mit allerlei Abwehrriten umgeben ..."i

Umso aufrührerischer musste jener romantische Kult um den Freitod erscheinen, der sich in ganz Europa nach der Veröffentlichung des "Werther" 1774 entfaltete. Der Kult um das "Werther"-Buch zeugte davon, dass die bisherigen Regeln und Normen den gewandelten gesellschaftlichen Einstellungen zum Freitod nicht mehr entsprachen. Das Individuum bestand nun auf dem Recht, das eigene Leben und den eigenen Tod selbst zu bestimmen. Es löste sich damit aus den traditionellen christlichen Glaubenswelten, die so lange Zeit alles überwölbt hatten.

Das Recht auf den Freitod war Gegenstand aufgeklärter Diskussionen. Der Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg vermerkte: "Man schreibt wider den Selbstmord mit Gründen, die unsere Vernunft in dem kritischen Augenblick bewegen sollen. Dieses ist aber alles vergeblich, solange man sich diese Gründe nicht selbst gefunden hat, das heißt, sobald sie nicht die Früchte, das Resultat unsrer ganzen Erkenntnis und unsres erworbenen Wesens sind. Also alles ruft uns zu, bemühe dich täglich um Wahrheit, lerne die Welt kennen, befleißige dich des Umgangs mit rechtschaffnen Menschen, so wirst du jederzeit handeln, wie dir's am zuträglichsten ist, und du findest dereinst den Selbstmord für zuträglich, das heißt sind alle deine Gründe nicht hinreichend dich abzuhalten, so ist er dir auch - erlaubt."ii Auch der Philosoph Arthur Schopenhauser sollte 1819 in seinem Hauptwerk "Die Welt als Wille und Vorstellung" den Freitod als möglichen Ausweg propagieren. Nur wenige Jahre zuvor hatten der Dichter Heinrich von Kleist und Henriette Vogel ihrem Leben in einem spektakulärem Doppel-Freitod ein Ende gesetzt.

Noch ein anderes gesellschaftliches Phänomen ließ den Umgang mit dem Tod im 18. Jahrhundert in völlig neuem Licht erscheinen: die Furcht vor dem Scheintod. Zahlreiche Aufsehen erregende Schilderungen über Scheintote, von der sich gerade entfaltenden Presselandschaft gern aufgegriffen, hatten Öffentlichkeit und Mediziner alarmiert. Es ging um Klopfzeichen und Bewegungen von vermeintlich Toten, um Verstorbene, die plötzlich vom Totenbett aufstanden und ähnliches mehr. Wenn es auch kaum wirklich überprüfbare Fälle von wiederauferstandenen Scheintoten gab, so bemühte man sich von aufgeklärter Seite um "Entdämonisierung". Beruhigend wirkten hier behördliche Vorschriften über den zeitlichen Ablauf der Bestattung und geregelte Leichenschauen.

Die sichtbarste Folge des Scheintod-Phänomens aber war die Einrichtung spezieller "Leichenhäuser". Hier wurden kompliziert anmutende Weck- und Signalapparate für Verstorbene installiert und Wärter beschäftigt.iii Die ersten dieser Leichenhäuser - mit denen zugleich eine neue Form der Sepulkralarchitektur entstand - sind aus den 1790er-Jahren bekannt. Über ihren Zusammenhang mit der grassierenden Furcht vor dem Scheintod hieß es in einer zeitgenössischen Schrift von 1796: "Zur wahren Verbesserung und der einzig guten Anstalt in dieser wichtigen Sache war der erste Schritt der, dass man allzu frühe Beerdigungen auf das feierlichste verbot. Aber da die Kennzeichen des Todes so trüglich sind, ... so fiel man endlich auf das sicherste unfehlbarste Rettungsmittel, auf Leichenhäuser. Hier muss sich der gebundene Lebenszustand zum Erwachen oder zum wirklichen Tod auflösen; hier ist schlechterdings kein Mensch mehr der Gefahr ausgesetzt, lebendig eingescharrt zu werden; denn hier werden die Leichen in offenen Särgen, unter der Aufsicht unterrichteter und beeidigter Wächter, so lange hingestellt, bis über die Gewissheit des Todes bey den Aerzten kein Zweifel mehr übrig seyn kann."iv

Über das 1792 eröffnete Leichenhaus in Weimar, das auf den Arzt und Aufklärer Christoph Wilhelm Hufeland zurückgeht, liegt eine Beschreibung vor. Sie soll wegen ihrer Detailtreue hier ausführlicher zitiert werden: "In Weimar fand die Idee so allgemeinen Beifall, dass ohne Schwierigkeiten eine Subscription zur Eröffnung eines Leichenhauses zu Stande kam, die so gut ausfiel, dass ein Leichenhaus nach HUFELAND's [i. Orig. hervorgehoben] Angaben und unter seiner Aufsicht gebaut werden konnte. Es lag auf dem alten Gottesacker und enthielt ein grosses Zimmer, worin acht Leichen bequem liegen konnten. Es wurde durch Ofenröhren, welche unter dem Fußboden lagen, erwärmt und war mit Zugröhren versehen, um eine beständige Lufterneuerung hervorzubringen. Neben diesem grösseren Zimmer befand sich eine Stube für den Wächter mit einem Glasfenster in der Thür zur Beobachtung der Leichen. Diese Zimmer hatten eine Höhe von 12 Fuss, die Decke derselben war gewölbt. Eine Küche diente zur Bereitung der nötigen Hülfsmittel und namentlich warmer Bäder, wenn sich ja wiederkehrende Lebenszeichen darthun sollten. Damit keine, auch nicht die geringsten Zeichen des wiederkehrenden Lebens verloren gingen, bekamen die Wächter nicht allein eine sehr genaue Instruction, sondern es wurden auch Prämien für den ersten, der solche entdeckte, ausgesetzt. Um aber den Scheintodten es möglichst zu erleichtern, etwaige Zeichen von Leben von sich zu geben, wurden Hände und Füsse jedes Todten mit Fäden in Verbindung gesetzt, deren geringste Erschütterung sich durch eine damit verbundene Schelle hörbar machte."v

Zwar waren, wie gesagt, die Leichenhäuser in erster Linie eine Reaktion auf die Furcht vor dem Scheintod. Zugleich aber dienten sie von Anfang an auch hygienischen Zwecken. Auch ordnungspolitische Fragen wie die Verwahrung fremder Toter zur späteren Identifizierung spielten hinein. Insgesamt waren die Leichenhäuser architektonischer Ausdruck einer zunehmenden behördlichen Kontrolle und Bürokratisierung im Umgang mit den Toten.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstanden etliche weitere Leichenhäuser auf deutschen Friedhöfen. Ihre Funktion differenzierte sich immer weiter aus, wie der 1848 erfolgte Ausbau des Leichenhauses auf dem Münchener Südfriedhof bewies: "Das erweiterte Leichenhaus umfaßte nun folgende Räume: Leichensäle erster Klasse, Leichensäle zweiter und dritter Klasse, Lokal für Totgefundene, einen Saal für an ansteckenden Krankheiten Gestorbene, Sectionssaal, Küche mit Wasserbehälter, Badezimmer, Wächterzimmer, Wohnung für einen verheirateten Leichenaufseher, zwei Versammlungssäle ..."vi Als spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Furcht vor dem Scheintod an Bedeutung verloren hatte, andererseits Industrialisierung und Urbanisierung die Städte rasch anwachsen ließen, spielten die hygienischen Faktoren eine immer wichtigere Rolle. Die behördlich kontrollierbare Aufbahrung in den Leichenhallen, wie sie später hießen, wurde von der Obrigkeit der hygienisch bedenklichen Hausaufbahrung vorgezogen. Vor allem in den beengten Wohnungen der Unterschichten bestand in der Regel keine Möglichkeit zur geeigneten Lagerung der Toten.vii Allerdings stießen viele Leichenhallen erst allmählich und verbunden mit behördlichem Druck auf Resonanz. In Frankfurt/Main beispielsweise wurden 1885 nur 5% aller Toten von der Leichenhalle aus bestattet, im Jahr 1892 - nach Bau einer neuen Leichenhalle - bereits 60%.viii

Auch jenseits der Leichenhallen beeinflußte der Hygienediskurs den Umgang mit dem Tod immer stärker. Ohnehin war die Hygienefrage zu einem Schlüsselproblem aufgeklärten Denkens geworden. Sanitäts-Collegien wurden eingerichtet, Medizinalordnungen erlassen, mehrbändige Handbücher zur Gesundheitspflege erschienen - die Medizin bemächtigte sich des menschlichen Körpers. Im allgemeinen gesundheitspolitischen Kontext zeitigten die aufgeklärten Bemühungen um Hygiene- und andere Reformen um 1800 gewisse Erfolge. Die Sterblichkeit war deutlich zurückgegangen. Im 18. Jahrhundert endeten die starken jährlichen Schwankungen der Mortalität und die daraus entstehenden Seuchen- und Hungerkrisen. Gerade in der Zeit um 1800 beschleunigte sich das Bevölkerungswachstum in Deutschland. Durch diese Entwicklungen rückte der Tod in eine größere Distanz zu den Lebenden, die langfristige Lebensplanung konnte auf stabilerem Fundament geschehen.

Die markanteste Zäsur, die der Hygienediskurs im Bestattungswesen auslöste, war eine erneute und im Vergleich zur Reformationszeit nun viel umfassendere Welle von Friedhofsverlegungen. Im Kontext des politischen Reformabsolutismus war die hygienische Problematik eines ungeordneten Bestattungswesens nämlich erneut ins öffentliche Interesse gerückt. Viele der seit dem 16. Jahrhundert verlegten Begräbnisplätze befanden sich inzwischen wieder innerhalb bewohnter Gebiete. In anderen Orten hatte es gar keine Verlegungen gegeben - hier sorgten immer noch Kirchen und Kirchhöfe, die mit Leichen überfüllt waren, für hygienische Probleme. Besonders in den Brennpunkt der Kritik gerieten jene Gemeinschaftsgruben, die für jede Bestattung neu geöffnet und wieder zugeschüttet wurden: Die Leichen lagen hier neben- und aufeinander, Leichendünste stiegen auf. Wie immer die einzelnen Fälle zu beurteilen sind - in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sah man die bestehenden Begräbnisplätze aus Furcht vor schädlichen Ausdünstungen und ausfließenden Leichengiften als grundsätzliche Gesundheitsgefahr für die Lebenden.

Immerhin wurden die hygienischen Zustände auf den Friedhöfen als ein Problem begriffen, das man mit vernunftgemäßen Mitteln und entsprechend neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen lösen wollte. Bekannte Repräsentanten aufgeklärter Reformpolitik wie der Altonaer Arzt und spätere Staatsmann Johann Friedrich Graf von Struensee nahmen zu dem Bestattungsproblem Stellung.ix Erstes und wichtigstes Anliegen der Reformer war es, innerstädtische Begräbnisplätze zu schließen und neue Friedhöfe vor den Toren der Städte anzulegen. Als Vorbild dienten Nachbarstaaten wie Frankreich und Österreich, wo es zu durchgreifenden Bestattungsreformen gekommen war: in Frankreich mit der 1776 landesweit verordneten Verlegung gesundheitsgefährdender Begräbnisplätze, in Österreich in den 1780er-Jahren im Rahmen der josephinischen Reformpolitik.

In Deutschland allerdings fiel die Umsetzung medizinisch-hygienischer Forderungen im Bestattungswesen auf Grund der politischen Zersplitterung in zahlreiche, teilweise kleine Einzelterritorien und selbstständige Städte uneinheitlich aus. Die im späten 18. Jahrhundert einsetzende Welle von Friedhofsverlegungen zog sich über mehrere Jahrzehnte hin. Zwei von vielen Beispielen: In Bonn wurde im Jahr 1787 die Schließung der innerstädtischen Pfarrkirchhöfe angeordnet und der Friedhof vor dem Sterntor (heute Alter Friedhof) zum alleinigen Begräbnisplatz der Stadt erklärt. Der Schließung der innerstädtischen Kirchhöfe ging eine Verordnung von 1785 voraus, die für das gesamte Kurfürstentum die Verlegung der Kirchhöfe aus den Städten und ein Bestattungsverbot in den Kirchen beinhaltete. Außerdem schrieb sie vor, die Beerdigung von Protestanten auf katholischen Friedhöfen zuzulassen (die oben erwähnte, auf den Westfälischen Frieden von 1648 zurückgehende gegenseitige Gewährung von Grabstätten war nämlich in der Praxis vielerorts auf Widerstand gestoßen).x In Hamburg erfolgte die Verlegung der Begräbnisplätze vor die Stadttore in den Jahren 1793/94, nachdem sich zuvor Mitglieder der aufgeklärt-fortschrittlichen Patriotischen Gesellschaft dafür eingesetzt hatten. Die bis dahin genutzten Kirchfriedhöfe der fünf Hamburger Hauptkirchen waren, ebenso wie der Dom, mit Leichen überfüllt gewesen.xi Im Übrigen gehen etliche der heute noch bekannten städtischen Friedhöfe auf die Zeit der Verlegungswelle in den Jahrzehnten um 1800 zurück, wie der Alte Südfriedhof in München und der Friedhof Melaten in Köln.

Auch die Binnenstruktur der Begräbnisplätze änderte sich. Die neu angelegten Friedhöfe erhielten ein geregeltes, in der Regel rechtwinklig angelegtes Wegenetz und eine systematische Ordnung. Die Einzelbeerdigung wurde zur Richtschnur: Jedem Verstorbenen wurde ein eigenes, klar identifizierbares Grab zugewiesen. Idealerweise sollte die Lage des Grabes aus der Reihenfolge des Todes folgen - daher die Bezeichnung "Reihengrab". Dieses System erleichterte die behördliche Kontrolle der Bestattungen. Beerdigungsregister sorgten dafür, dass nicht mehr wahllos bestattet wurde - eine Entwicklung übrigens, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch im ländlichen Bereich übernommen wurde. Das Erscheinungsbild der Friedhöfe wurde nun durch ein wohlstrukturiertes Wegenetz und geordnete Gräberfelder geprägt. Damit begann eine "Bürokratisierung" der Friedhöfe, die sich bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht nur als unumkehrbar erweisen, sondern - wie zu zeigen sein wird - noch erheblich verschärfen sollte.xii

Im Übrigen wurde der tote Körper immer mehr zum Objekt wissenschaftlichen Interesses. Klassisches Beispiel dafür ist die Obduktionspraxis. Sie erlebte in der Aufklärungszeit einen Höhepunkt. Bis ins 18. Jahrhundert hinein dienten zunächst die Leichen von Hingerichteten als Versuchsobjekte, dann unter anderem auch Unbekannte und Arme sowie im Zuchthaus oder Hospital Verstorbenen. Die Zahl der Obduktionen wuchs im 18. Jahrhundert, weil Aufklärung und Nützlichkeitsdenken der medizinischen Neugierde ihre Legitimation verschafften. Die Anatomie wurde mit dem Hinweis auf den "gemeinen Nutzen" als eigene Forschungsdisziplin begründet.xiii

Der britische Schriftsteller Robert Louis Stevenson sollte später in seiner Erzählung "The Body Snatcher" (dt. "Der Leichenräuber") der Anatomie zu - allerdings zweifelhaftem - literarischen Ruhm verhelfen. Stevenson schildert darin den mit höchst unlauteren Mittel geführten Kampf um die fälligen Versuchsobjekte. In der Erzählung heißt es über die Hauptbeteiligten: "Die Beschaffung von Leichen bedeutete für ihn sowohl wie für seinen Chef eine ständige Sorge. In der großen, fleißigen Klasse fehlte es ständig an anatomischen Rohmaterial und die dadurch erforderliche Geschäftigkeit war nicht nur an sich unerfreulich, sondern bedrohte auch alle, die damit zu tun hatten, mit gefährlichen Folgen."xiv Worin diese Folgen bestanden, wird bald deutlich: Der Anatomielehrer fordert von seinen Mitarbeitern das Ausgraben von Leichen auf dem Friedhof ...

Die Mehrdeutigkeit der bürgerlichen Moderne zeigte sich nicht nur in diesem wenig feierlichen Umgang mit dem Leichnam. Das, was die Aufklärung an Effizienz hervorgebracht hatte, drückte sich auch in Erfindungen wie der Guillotine aus, die die Todesstrafe vermeintlich "humanisierte", weil dem Delinquenten lange Leiden erspart wurden. Das bis in die frühe Neuzeit hinein übliche "Theater der Grausamkeit" (Richard J. Evans), also die öffentlichen Schauspiele des Erhängens, Vierteilens, Räderns, Ertränkens oder Verbrennens auf dem Scheiterhaufen, wurde durch die mechanische Guillotine abgelöst. Während der Französischen Revolution 1792 erstmals eingesetzt, galt sie geradezu als Symbol der aufgeklärten Moderne. In den Augen ihrer Anhänger demokratisierte sie die Hinrichtung, da nun alle Opfer gleich behandelt wurden. Die Hinrichtungen wurden nun zu einer präzisen, raschen und effizienten Angelegenheit. So konnte sich das Fallbeil "... nicht nur als Repräsentation von Humanität und Schmerzlosigkeit, sondern auch von Systematik und Ordnung etablieren. Auf Grund seiner Schnelligkeit und ‚Sauberkeit‘ stand es für das Bestreben, den eigentlichen Akt der Tötung zu sterilisieren und der Wahrnehmung des Publikums zu entziehen" (Jürgen Martschukat).xv

Auch in der Anlage der Friedhöfe trat letztlich die Mehrdeutigkeit der Moderne hervor. Zum rationalistischen Hygienediskurs kam bald die gefühlsbetonte Forderung nach ästhetischer Sublimierung. Das betraf zum Beispiel die Bepflanzung. Zunächst unterlag sie dem Diktat der Hygiene und war bewusst spärlich, denn eine allzu dichte Vegetation hätte - so die damals vorherrschende Meinung - die erwünschte Luftzirkulation behindert.xvi Jenseits dieser rationalistischen Haltung aber machte man sich immer häufiger Gedanken über eine Verschönerung der neuen Begräbnisplätze. Hier sollte sich künftig die im 18. Jahrhundert aufkommende Sehnsucht nach Natur und Ästhetisierung von Landschaft auswirken.

Wichtige Vorläufer einer neuen, naturgeprägten Friedhofsästhetik waren der Gottesacker der pietistischen Brüdergemeine in Herrnhut (1730) und der Neue Begräbnisplatz in Dessau (1787). Mit ihren gepflegten Rasenflächen verwiesen beide frühzeitig auf jene Verschmelzung von Tod und Natur, die zum Signum des bürgerlichen Zeitalters werden und das zuvor häufig verwahrloste Erscheinungsbild der Friedhöfe verändern sollte.xvii

Gleichwohl blieben es bis ins 19. Jahrhundert hinein zunächst Ausnahmefälle, wenn die vor den städtischen Toren neu angelegten Friedhöfen zu Oasen der Natur wurden. Eine solche Ausnahme bildeten die bereits erwähnten neuen Hamburger Friedhöfe vor dem Dammtor. Nach ihrer Einrichtung in den 1790er-Jahren entfalteten sie sich bald zu blühenden Gärten. Es war allerdings nicht so sehr die - durchaus konventionelle - Anlage als solche, sondern vor allem die Ausgestaltung der einzelnen Grabstätten mit Blumen, Pflanzen und Bäumen, die das prachtvolle Erscheinungsbild dieser Hamburger Friedhöfe prägte. Immer wieder wurden sie in zeitgenössischen Berichten als "Gärten" beschrieben, so wie im Jahr 1811 vom Publizisten Jonas Ludwig von Hess: "Einen gar seltenen Anblick gewähren diese eingelaubten Räume der Verwesung ... wenn der Frühling die dem Tode geweihten Haine mit seinem jungen, wieder erwachten Grün so eben verheimlicht hat. Ich entsinne mich, auf meinen Wanderungen keine melancolische Szene angetroffen zu haben, in der die Natur so eine zuverlässige Andeutung einer bessern Zukunft gemischt hätte, als durch diesen sichtbaren Sieg des neugebohrnen Lebens über die Verwesung."xviii

Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts trug dann das Ideal des englischen Landschaftsgartens zur Überwindung der bisherigen Friedhofsstrukturen bei. Insbesondere waren es die für den englischen Landschaftsgarten typischen geschwungenen Wege, die das vorherrschende rechtwinklige Ordnungsprinzip auflösten. Sie vermittelten die ersehnte Nähe zur vermeintlich unverfälschten Natur. Der geschwungene Weg des Landschaftsgarten wurde zum Symbol der Überwindung einer rein rationalistischen Friedhofsstruktur, zum Symbol eines neuen, sublimierten Bildes vom Tod. Theoretische Vorarbeit hatte der Kieler Philosophieprofessor und Ästhetiker Christian Cay Lorenz Hirschfeld mit seiner "Theorie der Gartenkunst" (1779-85) geleistet, als er eine parkähnliche landschaftliche Gestaltung der Friedhöfe vorschlug. Mit Friedrich Ludwig von Sckell schuf auch ein bedeutender Vertreter des "englischen Stils" im Jahr 1800 einen Friedhofsentwurf für Mannheim mit geschwungenen Wegen (der allerdings nicht realisiert wurde).xix

Allerdings setzte sich dieses Landschaftsideal nur schrittweise durch. Zunächst wurden, wie schon in Sckells Mannheimer Entwurf, lediglich einzelne Friedhofsbereiche landschaftlich geformt. Wichtige Etappen bildeten der ab 1813 umgestaltete Braunschweiger Domfriedhof, der Golzheimer Friedhof in Düsseldorf (Erweiterung ab 1816) und der 1828 eröffnete Frankfurter Hauptfriedhof. Der 1869 eingeweihte Kieler Südfriedhof (damals als Neuer Friedhof bezeichnet) wurde in seiner Gesamtanlage im landschaftlichen Stil mit künstlichem Hügel und Teich gestaltet. Nach Ansicht des für den Entwurf verantwortlichen Landschaftsgärtners Wilhelm Benque sollten sich die einzelnen Grabfelder "organisch" aneinander legen.xx

Auffälliger als in Deutschland zeigte sich die Tendenz zum landschaftlich gestalteten Friedhof in anderen Ländern. In Frankreich wurde der 1804 eröffnete neue Pariser Friedhof Ostfriedhof - heute besser bekannt unter dem Namen Père Lachaise - als malerischer Landschaftsgarten eingerichtet. Später wurden vor allem im angloamerikanischen Raum etliche "rural cemeteries" angelegt: beispielsweise Mount Auburn in Cambridge/Massachusetts (1831), Laurel Hill Cemetery in Philadelphia (1836), Greenwood Cemetery in Brooklyn/New York (1838) und der Londoner Friedhof Little Ilford (1856).xxi

In Deutschland schließlich fand der "englische Stil" seinen Höhepunkt im 1877 eröffneten Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg, gestaltet vom Architekten (und späteren Friedhofsdirektor) Wilhelm Cordes. Der neue, mehrere Kilometer vom Stadtzentrum entfernt auf dem freien Feld angelegte Begräbnisplatz gehörte zu jenen Großfriedhöfen, die im vom industriellen Wachstum geprägten späten 19. Jahrhundert am Rande der rasch wachsenden Städte neu eingerichtet wurden. In seiner harmonischen Synthese aus Natur, Kultur und Technik wurde er zum sepulkralen "Gesamtkunstwerk" und als Parkfriedhof zum international viel gerühmten Vorbild. Wie kein anderer Großfriedhof in Deutschland repräsentierte Ohlsdorf die Sehnsucht nach einem möglichst naturnah gestalteten Raum. Seine Natur- und Landschaftskulisse, die den Tod in die Pracht der Bäume und Sträucher, Hügel, Bäche und Teiche regelrecht einbettete, wurde zu einem sonntäglichen Ausflugsziel der großstädtischen Bevölkerung. Nicht zufällig erhielt der Ohlsdorfer Friedhof auf der Pariser Weltausstellung 1900 den Großen Preis für Gartenkunst.xxii Andere städtische Friedhöfe folgten dem Parkfriedhof Ohlsdorf in ihren Entwürfen, so Köln (Nord- und Südfriedhof, 1895/96 bzw. 1900) und Hannover (Erweiterung Stöckener Friedhof, 1901).

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg, im Jahr 1907, wurde in München mit Hans Grässels Waldfriedhof das erste Beispiel eines weiteren landschaftsnahen Friedhofstypus eröffnet, der rasch populär wurde. Während die Naturkulisse in Ohlsdorf noch systematisch modelliert worden war, d.h. von Menschenhand umgestaltet, blieb sie im Münchener Waldfriedhof weitgehend unberührt. Die bereits vorhandene Baumlandschaft wurde schlichtweg zu einem Friedhof umfunktioniert. Dabei bildeten die in den behutsam ausgeholzten Baumbestand gelegten Gräberfelder kleine, in sich geschlossene Einzelfriedhöfe. Die unregelmäßig gestaltete Wegeführung wurde der Waldlandschaft angepasst. Die im zeittypischen Heimatstil gestaltete Friedhofsarchitektur tat ein Übriges, um dem Waldfriedhof ein naturverbundenes Erscheinungsbild zu geben. Seine romantisch getönte, weltflüchtige Ästhetik entsprach dem neu erwachten Naturempfinden des frühen 20. Jahrhunderts, dem Zeitalter der "Wandervogel"-Bewegung. So fand der Münchener Waldfriedhof ebenfalls zahlreiche Nachahmer.

Die ästhetische Gestalt der Friedhöfe wurde war also im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend als gesellschaftlich bedeutsame Aufgabe empfunden worden. Auf diesem Weg reihten sich die Friedhöfe - neben Parks und Promenaden - in jene repräsentativen Orte ein, die sich das städtische Bürgertum im 19. Jahrhundert schuf. Friedhöfe wurden zum Ort des Spazierganges, auf denen sich Bürgerlichkeit in romantischer Naturästhetik äußerte (auf den Grabmalkult kommen wir später noch zu sprechen). Natur und Landschaft waren im Bürgertum zu einem gesellschaftlichen Fluchtraum geworden. Das neue "Kleid" der Friedhöfe entsprach dem Bild eines von seinen Schrecken befreiten, sublimierten Todes.

In der bürgerlichen Kunst und Literatur wurde Friedhof und Tod häufig und gern thematisiert. Im 19. Jahrhundert wurde der Tod bei Romantikern wie Caspar David Friedrich (der übrigens auch Grabmäler entwarf) und Carl Gustav Carus ("Der Friedhof auf dem Oybin", 1828) sowie später bei Arnold Böcklin symbolisch überhöht und metaphorisch aufgeladen, eingebettet in romantische, zuweilen mystische Landschaften. Populär wurde im späten 19. Jahrhundert vor allem Arnold Böcklins "Toteninsel"-Zyklus mit seiner Ruinenlandschaft. Daneben gab es aber auch realistisch-dokumentarische Darstellungen - etwa Adolf Menzels "Zwei gefallene Soldaten auf Stroh gelagert" (1866) oder "Gruft unter der Garnisonkirche in Berlin" (1873) - aus letzterer zeichnete Menzel übrigens auch einzelne Leichname.xxiii

Die Metaphern vom Tod wurden im bürgerlichen Zeitalter individualisiert: als subjektiv empfundene Grenzsituation, Reflexion über den eigenen körperlichen Verfall, Gefährdung der Identität durch den Tod. Dies fand seinen exemplarischen Ausdruck im Selbstbildnis, in dem der Künstler die Vergänglichkeit des eigenen Lebens persönlich gestaltet. Für dieses Thema gibt es zahlreiche Beispiele. Berühmt wurde wiederum ein Werk von Arnold Böcklin - das "Selbstbildnis mit fiedelndem Tod" (1872) als Variante des Totentanz-Motivs: "Der Tod, das ist hier in drastischer Deutlichkeit das abstoßende, grimassierende Skelett in grünlich-faul leuchtender Verwesung, wie es als Todespersonifikation, als tanzender und aufspielender Dämon seit dem Spätmittelalter begegnet. Doch Böcklin zeigt sich bei aller Bedrohung durch den Tod nicht überrascht und erschreckt, er zeigt sich nicht als Opfer des Todes. Statt entsetzter Abwehr ist da viel eher ein aufmerksames, fasziniertes Lauschen, als würde dem Künstler eine Erleuchtung zuteil."xxiv

Zu den bekanntesten Werken, die persönliche Todeserfahrungen verarbeiten, zählt "Das kranke Kind" (erste Fassung 1885/86) des in Deutschland populären norwegischen Malers Edvard Munch. Ein Mädchen sitzt in der Wohnstube in einem Stuhl, eingehüllt von Decken und Kissen. Der Maler scheint eine Vorahnung des nahen Todes in die Gesichtszüge gelegt zu haben, auf die durch das kaum wahrnehmbare Fenster Licht fällt. Es ist ein Bild voller privat ausgelebter Trauer - Munchs erstes konsequent persönliches Bild, in das er seine eigene Erfahrung von Sterben und Tod hineinlegte. Seine Mutter und seine 15-jährige Schwester Sophie waren zuvor an Tuberkulose gestorben. "In demselben Stuhl", schrieb Munch über das Bild, "haben ich und alle meine Lieben, von meiner Mutter an, Winter um Winter gesessen und sich nach der Sonne gesehnt - bis der Tod uns holte." Das Schaffen ständig neuer Varianten von dem Bild war für Munch Erinnerungsarbeit, Erinnerung an das Elternhaus, an Krankheit und Tod, die in seiner Familie stets präsent waren.xxv

Auch die bürgerliche Literatur widmete sich dem Thema Tod ausführlich. Thomas Mann zelebrierte in seinen "Buddenbrooks" (1901) ausführlich Sterben, Tod und Trauer im Lübecker Bürgertum des 19. Jahrhunderts - die Sterbeszene des kleinen Hanno sei hier als wohl berühmtestes von mehreren Beispielen genannt. Vor allem aber bei Fontane finden sich zahlreiche Passagen zum Thema Tod, die häufig auch der Illustration gesellschaftlicher Strukturen und Entwicklungen dienen: die Beschreibung von Sterbeszenen (beispielsweise in "Cecile", 1887) oder Kirchhöfen und Grabsteinen ("Wanderungen durch die Mark Brandenburg", 1862-1882) Der Umgang mit dem Tod trägt bei Fontane romantische Züge - er steht in der Tradition einer vorindustriellen Welt.xxvi Die besondere Atmophäre alter Kirchhöfe etwa wird in "Unwiederbringlich" (1891) geschildert: "Und damit nahm sie Astas Arm und ging mit ihr über den Flur auf eine Pforte zu, die direkt nach dem Kirchhof hinausführte. Nur wenige Schritte noch, dann kamen sie bis an einen breiten Querweg, der zwischen Gräbern hin auf die alte Feldsteinkirche zulief, einen frühgotischen Bau ohne Turm, der für eine Scheune hätte gelten können, wenn nicht die hohen Spitzbogenfenster gewesen wären mit ihrem dichten kleinblättrigen Efeu, der sich bis unter das Dach hinaufrankte. Die Glocke hing unter ein paar Schutzbrettern an der einen Giebelseite der Kirche, während an der andern ein niedriges Backsteinhaus angebaut war, mit kleinen Fenstern und jedes Fenster mit zwei Eisenstäben. Einige der Grabsteine, die hier in Nähe der Kirche besonders zahlreich waren, reichten mit ihrem Kopfende bis dicht an die Gruft heran, denn eine solche war der Anbau, und auf einen dieser Grabsteine stieg nun Asta und sah neugierig durch die kleinen eisenvergitterten Fenster. Dabei lehnte sie sich mit der Hand gegen einen losen Mauerstein, der sich dadurch nach hinten schob und einen anderen Halbstein, der auch schon lose war, zum Umkippen brachte, sodass er mit Gepolter in die Gruft hinabstürzte."xxvii

Fontane gibt das Stichwort für eine der bedeutsamsten, aber bisher noch nicht thematisierten Ausdrucksformen des bürgerlichen Todes: die Grabmäler. Gerade die Grabmäler des 19. Jahrhunderts waren häufig charakteristische Zeugnisse gesellschaftlichen Prestigedenkens - eine Feier der bürgerlichen Biografie. Das Grabmal übte eine wichtige Funktion im bürgerlichen Selbstverständnis aus. Wie beschrieben, war der Tod im Verlauf der Neuzeit zu einer Angelegenheit der Hinterbliebenen geworden. Die erinnernde Nachwelt als Publikum für die Grabmäler - dies war von zentraler Bedeutung für die gesellschaftliche Rolle der außerstädtischen Begräbnisplätze. Das Grabmal diente der Präsentation eines neuen, über die individuelle Lebensleistung gewonnenen bürgerlichen Selbstbewusstseins. Der ästhetisch gestaltete Raum des Friedhofs bildete hier die Kulisse. Unter diesen Voraussetzungen entfaltete sich allmählich jene neue, emotionsgetönte Grabmalkultur des bürgerlichen Zeitalters, die ein weiterer, ganz eigener Ausdruck der veränderten Einstellung zum Tod war.xxviii

Dabei galt auch für die Grabmäler, dass christliche Symbolelemente zwar dominant blieben, aber ihre Ausschließlichkeit einbüßten und an Verbindlichkeit verloren. Dagegen gewann die Formensprache der klassischen Antike an Bedeutung, wie sie leitbildhaft von Gotthold Ephraim Lessing in seiner Schrift "Wie die Alten den Tod gebildet" (1769) vermittelt wurde. Lessing wandte sich gegen die barocke Grabmalkunst, die den Tod naturalistisch als Schrecken darstellte. Stattdessen entdeckte er in den Kunstwerken der Antike den Tod als "Zwillingsbruder des Schlafes", als "schönen Tod" - den er etwa in der Figur des Todesgenius verkörpert sah. xxix

In der Folge floss die klassizistische Formensprache immer stärker in die Grabmalkultur ein. Mit ihren Obelisken, Urnen und Stelen setzte sie den naturalistischen Darstellungen des Barock ein anderes, sanfteres Bild vom Tod entgegen. Das Skelett und andere als "schrecklich" empfundene Darstellungen wurden aus dem sepulkralen Repertoire allmählich verbannt. Das neue Bild des Todes zeigte sich in Symbolen wie Fackeln, Mohnkapseln oder Blumen, die den Tod als verlöschendes Leben oder sanftes Entschlummern darstellten. Tod und Schlaf wurden zu einem Paar. Der Abschied der Toten von den Lebenden fand auf den Grabmälern ebenso seinen bildhaften Ausdruck wie die Trauer der Hinterbliebenen. Trauerfiguren, die in der Grabmalkunst des Barock keine bedeutende Rolle gespielt hatten, wurden nun stark aufgewertet. Thanatos als sanfter, schöner Jüngling mit nach unten gekehrter Fackel wurde zur Personifizierung des neuen Todesbildes. Der Übergang ins Jenseits wurde durch harmonisch geformte, entspannt schlafende Figuren verkörpert - alles Zeugnisse eines neuen, gefühlsbetonten Umgangs mit dem Tod.xxx

Vor diesem Hintergrund entwickelte sich allmählich jene dann im 19. Jahrhundert voll ausgeprägte Grabmalkultur, die das bürgerliche Individuum regelrecht zelebrierte: Fabrikanten, Professoren, Beamte - sie alle wollten ihre Biografie auf dem Grabstein verewigt sehen. Das Bild vom Tod wurde nicht nur emotional aufgeladen, sondern auch personalisiert. Häufig tauchten Porträts der Verstorbenen auf, zum Beispiel als Relief. Im übrigen wurden die Stilformen der Grabmäler immer vielfältiger. Insbesondere der Historismus des späten 19. Jahrhunderts trieb üppige Stilblüten: Neobarocke Formen standen neben neogotischen und neoklassizistischen. Um 1900 wurden die Grabmäler zunehmend monumentaler. Höhepunkt war der Mausoleumskult: Mausoleen, die als besonders aristokratische Grabmalform gelten, waren kostspielig und blieben einer schmalen sozialen Elite vorbehalten. In breiter Auffächerung also spiegelten die Grabmäler des 19. Jahrhunderts Besitz, Bildung und gesellschaftliches Prestige wider - den erfolgreichen Lebenslauf, der dem Bürgertum zu seiner Identität verhalf. Der Sozialwissenschaftlicher Zygmunt Bauman verglich dieses Projekt mit der Figur des Pilgers, der sich in seiner zielgerichteten Mission selbst verwirklicht. War sie vollendet, folgte die Verewigung im prachtvollen Grabmal. Als Hinweis für die Nachwelt, die Lebensleistung nach dem Tod zu erinnern und zu würdigen, schuf das Grabmal eine Art weltlicher Unsterblichkeit.xxxi

Auch die Symbolsprache wurde differenzierter. Trotz aller Säkularisierungstendenzen zählte das traditionell-christliche Kreuz noch immer zu den häufigsten und bekanntesten Symbolen auf Grabmälern. Teilweise stand es in Verbindung mit anderen Motiven, wie dem Anker: Da er bei Sturm das Schiff hält, ist der Anker in der christlichen Symbolsprache ein Zeichen der Hoffnung und wird häufig auf Grabdenkmälern verwendet. Einige Symbole entstammen der Natur: Die Rose war schon den Ägyptern, Griechen und Römern als Blume der Toten bekannt - in einigen Gegenden Mitteleuropas wurden die Begräbnisstätten sogar als Rosengärten bezeichnet. Der Palmzweig symbolisiert Sieg, Wiedergeburt und Unsterblichkeit und weist auf Auferstehung und Paradies hin, symbolisiert als immergrüne Pflanzen aber - ebenso wie Efeu - auch den Unsterblichkeitsglauben. Rebstock und Reben galten in der griechischen Antike als Symbol der Wiedergeburt, zugleich als Herrin über den Tod und die Erneuerung allen Lebens. Der Mohn ist ein häufiges Zeichen auf Grabmälern des 18. und 19. Jahrhunderts und zeugt von der gewandelten Einstellung zum Tod, denn die Mohnkapseln versinnbildlichen den Schlaf.

Neben der Symbolik sagt der figürliche Schmuck der Grabmäler etwas über die Einstellung zum Tod aus. Stellvertretend sei hier ein Beispiel ausführlich behandelt, weil es wie nur wenige andere zum Symbol des bürgerlichen Umgangs mit dem Tod im 19. Jahrhundert geworden ist: die Figur der Trauernden. Stehend, gebückt, sitzend oder zusammengekauert lässt sie sich auf vielen bürgerlichen Familiengrabstätten finden. Häufig aus Bronze oder Marmor, gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch seriell als fabrikmäßige Galvanoplastik hergestellt, verkörpert sie mit ihrem hingebungsvoll-wehmütigen Blick das gesellschaftlich kultivierte Gefühl bürgerlicher Trauer. In vielfältigen Varianten des Abschieds und Übergangs - dem Porträt des Mannes zugewandt, handreichend, kranzlegend oder blumenstreuend - zeigt sie das neue, sublimierte Bild vom Tod.

Bei der Trauernden handelte es sich um eine Grabfigur, die auf ganz eigene Weise etwas über die Gefühls- und Geschlechterbeziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft verrät. Auf der einen Seite wurde das Gefühl der Trauer in die Form einer unspezifischen, typisierten Weiblichkeit gegossen - Sanftheit und Wehmut in gelegentlich erotisierender Form (wie ja auch die Verbindung von Eros und Tod in der Zeit der Romantik ihren Höhepunkt erreichte). Die Trauernde verkörperte auf den Friedhöfen die gesellschaftliche Rolle, die die Frau im Umgang mit dem Tod zugewiesen bekam. Sie hatte die Trauerarbeit zu leisten: "Sie musste ihre Affekte, den ungebändigten und formsprengenden Schmerz, unter dem Diktat der Schönheit und Anmut bezwingen, um ... zur Harmonisierung der bürgerlichen Welt beitragen zu können."xxxii Derjenige aber, dem diese pathetischen Gefühle gelten, ist jeweils konkret identifizierbar: Es ist das männliche Familienoberhaupt, dessen Ruhm und Ansehen im Grabmal gleichsam ein letztes Mal materialisiert werden und dessen Porträt idealerweise selbst auf dem Grabmal gezeigt wird.

Zuvor war der Tod in der Regel in männlicher Gestalt erschienen: als Schnitter, Knochen- oder Sensenmann, seit dem späten 18. Jahrhundert unter Rückgriff auf antike Traditionen als Thanatos.xxxiii Andererseits stand Weiblichkeit schon seit Jahrhunderten im Zusammenhang mit Trauer und Totenklagen. In einem Zeitalter, in dem die Säkularisierung rasch voranschritt und der christliche Glaube immer weniger sinnstiftend wirkte, konnte durch das Bild der "schönen Frau" die Konfrontation mit dem Tod sublimiert werden. Die Kunsthistorikerin Gerlinde Volland resümiert in ihrer Studie zur Figur der Trauernden: "Nähe und Ferne fallen im Bild der weiblichen Trauernden zusammen. Sie ist sowohl Allegorie der Trauer als auch Abbild der trauernden Frau ... Als Allegorie personifiziert sie die ausgelagerte, auf jemand anderes verschobene, zunehmend tabuisierte Trauer; als trauernde Hinterbliebene zeigt sie die emotionale Nähe zum Verstorben an: Die Frau als ‚die Andere‘ trauert um ‚den Einen‘, Einzigen."xxxiv

Diese gesellschaftlichen und emotionalen Muster erhielten durch eine besondere technische Innovation im späten 19. Jahrhundert einen weiteren Schub. Ein unter dem Stichwort Galvanoplastik bekanntes Herstellungsverfahren bewirkte, dass sich die Trauernde - wie auch andere Grabfiguren - massenhaft herstellen ließen. Die Galvanoplastik entsteht durch ein elektrochemisches Verfahren zur Nachbildung eines Objektes über die galvanische Abscheidung von dünnen Metallüberzügen. Das einmal angekaufte Modell eines Künstlers konnte seriell hergestellt werden. Damit wurde die Trauernde beliebig reproduzierbar. Auf Grund der gesunkenen Kosten waren die Figuren nun nicht mehr nur für die soziale Elite erschwinglich. Die Ähnlichkeit mit wesentlich kostspieligeren Bronzeplastiken sorgte ab 1890 für eine rasche Ausbreitung auf den Friedhöfen. Emotionales Pathos und modern-industrielle Produktionsweise verschmolzen in der Trauernden auf bezeichnende Weise. In der schablonenhaften Serialisierung wurde diese Grabfigur zum sepulkralen Signet der Zeit der Hochindustrialisierung um 1900.xxxv

Aber die Produktion von Galvanoplastiken für Grabstätten blieb eine temporäre Erscheinung. Noch vor dem Ersten Weltkrieg geriet sie in den Brennpunkt eines kritischen Diskurses, der mit dem Stichwort "Friedhofs- und Grabmalreform" verbunden ist und eine neuerliche Zäsur in der Friedhofsgeschichte einläutete. Einerseits wandten sich die Reformer, deren Aktivitäten sich im frühen 20. Jahrhundert im Umfeld der allgemeinen Kultur- und Lebensreformbewegungen entfalteten, gegen die als überholt empfundene Grabmalkultur des 19. Jahrhunderts, insbesondere gegen deren historistische Auswüchse, sowie gegen industrielle "Massenware". Andererseits wurde auch der romantisch-weltflüchtige Landschaftsfriedhof insgesamt kritisiert: als unübersichtlich, ineffizient und der eigentlichen Funktion nicht angemessen. Franz Kafka schrieb in "Ein Traum" von diesem Problem, als er Josef K. spazieren gehen ließ: "Kaum aber hatte er zwei Schritte gemacht, war er schon auf dem Friedhof. Es waren dort sehr künstliche, unpraktisch gewundene Wege ..."xxxvi

Stattdessen favorisierten die Reformer die Reißbrettästhetik des rechten Winkels - analog zu Entwicklungen im modernen Städtebau. Gegen die romantisch getönte, verschwenderische Pracht der landschaftlichen Friedhöfe setzten sie auf sachliche Funktionalität. Ihr Ziel war darüber hinaus, Grabsteine und Gräberfelder zu vereinheitlichen, um der stilistischen "Willkür" Einhalt zu gebieten. Nicht mehr das einzelne Grabmal stand im Mittelpunkt, sondern das Gräberfeld als Ensemble. Bei den Friedhofsverwaltungen stießen die Reformideen auf große Resonanz. Nach dem Ersten Weltkrieg, in der Zeit der Weimarer Republik, wurde die Palette der Grabmalformen auf deutschen Friedhöfen stark eingeschränkt. Die schlichte Stele wurde als Grabstein zum Leitbild erhoben, weil sie sich am besten in den "neuen", funktionalen Friedhof einordnen ließ. Dank strenger behördlicher Gestaltungsvorschriften wurden die Grabsteine bis auf den Zentimeter genau normiert und damit standardisiert, der individuelle Gestaltungsspielraum stark eingeschränkt. Als Vorbild dienten übrigens unter anderem die nach 1918 angelegten Soldatenfriedhöfe (auf die im vierten Kapitel näher eingegangen wird). Allerdings blieb die Vegetation auch im Reformfriedhof ein wichtiger Gestaltungsfaktor. Sie wurde nun jedoch gebändigt, wie sich in den formgerecht gestutzten Hecken der 1920er-Jahre zeigte.

Die Nationalsozialisten knüpften an die Friedhofs- und Grabmalreform problemlos an, da sich deren "organisches" Prinzip bestens in ihre Gemeinschaftsideologie einpassen ließ. 1937 wurde die von den Reformern seit langem ersehnte Reichsmusterfriedhofsordnung erlassen, die auch im Nachkriegsdeutschland noch für lange Zeit das maßgebliche Vorbild blieb. Bis in die Gegenwart hinein bestimmt das sachlich-funktionale Leitbild der Reformer das Erscheinungsbild deutscher Friedhöfe - und dies galt auch für die ehemalige DDR. Es weist damit über unterschiedliche historische Perioden und Gesellschaftsformationen hinweg eine erstaunliche Kontinuität auf. Zwar ist dieses Leitbild bisweilen modifiziert, aber nicht grundsätzlich verändert worden.xxxvii

Doch blenden wir noch einmal zurück ins 19. Jahrhundert: Das Bedürfnis des städtischen Bürgertums, das gesellschaftliche Prestige im Tod zu demonstrieren, verlangte nicht nur nach Grabmälern, sondern auch nach repräsentativen Zeremonien. Nicht zufällig gelangte die Trauerrede am offenen Grab, in der das Leben des Verblichenen noch einmal gefeiert wurde, im 19. Jahrhundert zu voller Blüte. Tod und Trauer wurden damit zu einem bedeutenden Element jener bürgerlichen Feierkultur, die auf einer Mischung aus christlichen Traditionen, privater Emotionalität und gesellschaftlichem Prestigedenken beruhte. Klassische Orte der Trauer waren das Haus des Verstorbenen mit dem Aufbahrungszimmer, die Kirche, die Grabstätte. Pflanzen, Leuchter, schwarzer Flor bildeten ebenso Elemente der Trauersymbolik wie Blumenschmuck. Überhaupt wurden Blumen zu einem charakteristischen Merkmal bürgerlicher Trauer - 1867 eine Schrift unter dem Titel "Die Pflanze als Todtenschmuck und Grabeszier".xxxviii

Vor allem der gefühlsbetonte letzte Abschied am offenen Grab spielte eine große Rolle. Franz Grillparzer hat eine solche Szene in "Der arme Spielmann" (1847) geschildert: "Die Träger erschienen, ich zog mich zurück, um Platz zu machen. Der Sarg ward erhoben, hinabgebracht, und der Zug setzte sich in Bewegung. Voraus die Schuljugend mit Kreuz und Fahne, der Geistliche mit dem Kirchendiener. Unmittelbar nach dem Sarge die beiden Kinder des Fleischers und hinter ihnen das Ehepaar. Der Mann bewegte unausgesetzt, als in Andacht, die Lippen, sah aber dabei links und rechts um sich. Die Frau las eifrig in ihrem Gebetbuche, nur machten ihr die beiden Kinder zu schaffen, die sie einmal vorschob, dann wieder zurückhielt, wie ihr denn überhaupt die Ordnung des Leichenzuges sehr am Herzen zu liegen schien. Immer aber kehrte sie wieder zu ihrem Buche zurück. So kam das Geleite zum Friedhof. Das Grab war geöffnet. Die Kinder warfen die ersten Hand voll Erde hinab. Der Mann tat stehend dasselbe. Die Frau kniete und hielt ihr Buch nahe an die Augen. Die Totengräber vollendeten ihr Geschäft, und der Zug, halb aufgelöst, kehrte zurück.."xxxix

Natürlich: Die Masse der Bevölkerung wurde weiterhin ohne aufwändige Zeremonien und Trauerymbolik zu Grabe getragen. Für die unteren Schichten kam auch im 19. Jahrhundert in vielen Fällen nur die unfeierliche, oft zeichenlose Bestattung infrage. Dennoch formten die einzelnen Elemente bürgerlicher Trauerkultur insgesamt ein Leitbild, das künftig an Relevanz gewann und weit ausstrahlte. Als Rainer Maria Rilke zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" über den Tod seines Vaters schrieb, wirkte etwas von dieser Feierlichkeit nach: "Mein Vater starb in der Stadt, in einer Etagenwohnung, die mir feindselig und befremdlich erschien. ... Er war aufgebahrt in einem Hofzimmer zwischen zwei Reihen hoher Kerzen. Der Geruch der Blumen war unverständlich wie viele gleichzeitige Stimmen. Sein schönes Gesicht, darin die Augen geschlossen worden waren, hatte einen Ausdruck höflichen Erinnerns."xl

Ein besonderes Element bürgerlicher Trauerkultur bildeten die Todesanzeigen in der Tagespresse - sie sind bis heute ein klassisches Medium öffentlicher Trauer geblieben. Ursprünglich waren die Todesanzeigen jedoch ein Mittel von Geschäftsleuten, gewerbliche Veränderungen nach einem Todesfall mitzuteilen. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Todesanzeige auch zum Ausdrucksmittel öffentlicher Trauer.

Auch an den Formen der Trauer ging der Säkularisierungsprozess des 19. Jahrhunderts nicht vorbei. Weltliche Einflüsse gewannen immer größeren Raum. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bemühten sich freigeistige Bewegungen um eine jenseits der christlichen Religion begründete, naturwissenschaftlich bestimmte Lebensphilosophie. Im Zusammenhang mit Fragen lebenspraktischer Ethik setzte man sich auch gezielt mit dem Tod auseinander und plädierte für eine "materialistische" Sicht. Stellenweise damit verknüpft, brachte die im späten 19. Jahrhunderts immer stärker werdende Arbeiterbewegung die Kirchen in die Defensive. Trauerfeiern wurden häufig zu politischen Demonstrationen umfunktioniert, christliche durch politische Symbole ersetzt. Die Sozialdemokratie nutzte beispielsweise Bestattung und Trauer, um Bismarcks Sozialistengesetz zu unterlaufen, das ihre Arbeit zwischen 1878 und 1890 massiv einschränkte. Das traditionelle Schwarz wurde durch rote Bänder, Schleifen und Blumen ersetzten. Oft waren diese Trauerzüge ein Akt, an dem die gesamte Familie beteiligt war und dem die Obrigkeit nicht tatenlos zusah. Im "Handwörterbuch der preußischen Verwaltung" von 1906 hieß es: "Das Halten von Laienreden am Grabe ist vielfach im Interesse der öffentlichen Ordnung durch polizeiliche Vorschriften oder durch Friedhofsordnungen untersagt. Reden im obigen Sinne sind auch kurze Ansprachen, z. B. ,Im Namen der Sozialdemokratie widmen wir diesen Kranz‘ ... Ungewöhnliche Leichenbegängnisse, bei denen öffentliche politische oder dissidentische Kundgebungen stattfinden oder Laienreden gehalten werden sollen, ... unterliegen der ortspolizeilichen Genehmigung."xli

Davon unberührt blieb die Bestattung von August Bebel, des langjährigen Führers der deutschen Sozialdemokratie - das Bebelsche Familiengrab lag in Zürich, wo im August 1913 auch die Trauerfeier stattfand. Sie wurde zur eindrucksvollen politischen Manifestation der politisch und gesellschaftlich immer noch diskriminierten Sozialdemokratie. Aufbahrung und Trauerzug gestalteten sich zu einer "Symphonie in rot", wie es in der Parteipresse hieß.xlii

Öffentliche Höhepunkte der Trauerkultur waren die Staatsbegräbnisse. Sie dienten in erster Linie - und dies gilt bis in die Gegenwart - der Legitimation des herrschenden politischen Systems. Die pompösen Zeremonien bei der Bestattung des deutschen Kaisers Wilhelm I. im Jahr 1888 galten folgerichtig der Selbstdarstellung des noch jungen, aus dem Deutsch-französischen Krieg 1870/71 geborenen Kaiserreiches. Später, in der Zeit der Weimarer Republik, diente die Bestattung des 1925 verstorbenen sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert dem Versuch, die brüchigen Fundamente des republikanischen Staates zu sichern. Gerade hier prallten die politischen Gegensätze krass aufeinander: Während Sozialdemokraten und Gewerkschaften einen öffentlichen Trauerzug organisierten, hatte die bürgerliche Reichsregierung nur eine Feier im kleinen Kreis zulassen wollen.xliii

Jenseits aller Feierlichkeit kannte auch das bürgerliche Zeitalter den grausamen Kriegstod. In aller Regel wurde die Masse der Gefallenen an Ort und Stelle unter die Erde gebracht - regelrechte Soldatenfriedhöfe im heutigen Verständnis kamen in Europa erst während des Ersten Weltkriegs auf. Um einen vermeintlich identitätsstiftenden "Sinn" des Massensterbens bemühte man sich da schon eher. Neben den Befreiungskriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es dann vor allem der Deutsch-Französische Krieg 1870/71, der Anlass für einen "patriotischen Heldentod" zu bieten schien. In den damaligen illustrierten Zeitschriften wurde der Kriegstod als "vaterländischer Tod" überhöht und verherrlicht.xliv

Für die weitere Geschichte des Umgangs mit Tod und Trauer wurden wiederum Hygiene, Technik und Rationalität entscheidend. Allein die bereits erwähnte Anlage von Großfriedhöfen weit außerhalb der Städte veränderte die Rahmenbedingungen. Der Ohldorfer Friedhof in Hamburg zum Beispiel lag zehn Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Diese Begräbnisstätten waren zu Fuß nicht mehr zu erreichen, und auch für Pferdefuhrwerke waren es weite Wege. So wurden die außerstädtischen Großfriedhöfe teilweise mit Bahnstrecken an die Stadt angebunden. Der 1909 eröffnete Stahnsdorfer Friedhof in Berlin beispielsweise erhielt eine eigene S-Bahn-Verbindung. Langfristig jedoch setzte sich der Leichentransport mit dem Auto durch. Noch vor dem Ersten Weltkrieg kamen auf den Straßen deutscher Städte, wie in Berlin, die ersten Leichenautomobile auf. Vor allem aber technisierten die ersten Krematorien, wie im nächsten Kapitel ausführlich zu erläutern sein wird, im späten 19. Jahrhundert den Umgang mit dem Tod.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden auch die ersten privatgewerblichen Bestattungsunternehmen. Sie gingen im Zuge der Gewerbefreiheit meist aus Schreiner- und Fuhrbetrieben hervor, die das Bestattungsgeschäft zuvor nebenbei betrieben hatten.xlv Industrialisierte Sargproduktion, aufwändige Leichentransporte zu den neuen Großfriedhöfen und die wachsende Nachfrage nach weiteren Dienstleistungen spielten bei der weiteren Entwicklung des neuen Gewerbezweiges eine wichtige Rolle. Die Bestatter übernahmen teilweise auch Funktionen, wie sie zuvor von Familie und Nachbarschaft oder genossenschaftlichen Einrichtungen ausgeübt worden waren. In einigen Städten, wie Kassel, war eine privatwirtschaftliche Tätigkeit auf diesem Gebiet allerdings untersagt; die Aufgaben wurden dort, wie schon seit längerem in München, kommunal wahrgenommen.xlvi

Bisher wurde vor allem die Entwicklung in den Städten geschildert. In ländlichen, abgelegenen Regionen hielten sich die traditionellen, auf den innerörtlichen Kirchhof orientierten Begräbnistraditionen weit über die frühe Neuzeit hinaus. Für Oberbayern zeigt der Maler Leopold von Kalckreuth auf einem seiner ersten bedeutenden Gemälde 1883 einen bäuerlichen Leichenzug in Dachau-Etzenhausen: Der Pfarrer und drei Messbuben schreiten dem Sarg voran, der von einem Pferdegespann gezogen und von einem Bahrtuch überdeckt wird. Die schwarz gekleidete Trauergemeinde folgt dem Wagen. Es war die Aufgabe der Nachbarn, den Toten zum Friedhof zu tragen und ihm das Grab zu schaufeln - es sei denn, der Verstorbene gehörte einer Zunft oder Bruderschaft dann, die dann das letzte Geleit gab.xlvii

Für den protestantischen Norden - genauer gesagt: die schleswig-holsteinische Westküte - beschrieb Theodor Storm eine ähnliche Szenerie in seiner Novelle "Der Schimmelreiter" (1888) beschrieben: "Und nun gab es eine große Leiche im Dorf. Droben auf der Geest auf dem Begräbnisplatz um die Kirche war zu Westen eine mit Schmiedegitter umhegte Grabstätte; ein breiter blauer Grabstein stand jetzt aufgehoben gegen eine Traueresche, auf welchem das Bild des Todes mit stark gezahnten Kiefern ausgehauen war ... Es war die Begräbnisstätte des früheren Deichgrafen Volkert Tedsen; nun war eine frische Grube gegraben, wohinein dessen Sohn, der jetzt verstorbene Deichgraf Tede Volkerts, begraben werden sollte. Und schon kam unten aus der Marsch der Leichenzug heran, eine Menge Wagen aus allen Kirchspielsdörfern; auf dem vordersten stand der schwere Sarg, die beiden blanken Rappen des deichgräflichen Stalles zogen ihn schon den sandigen Anberg zur Geest hinauf; Schweife und Mähnen der Pferde wehten in dem scharfen Frühjahrswind. Der Gottesacker um die Kirche war bis an die Wälle mit Menschen angefüllt, selbst auf dem gemauerten Tore huckten Buben mit kleinen Kindern in den Armen; sie wollten alle das Begraben ansehn."xlviii

Besondere landschaftliche Gegebenheiten haben auch immer besondere Traditionen im Umgang mit dem Tod hervorgebracht. Dies gilt gerade für die von Theodor Storm so gern thematisierte Nordseeküste. Häufig wurden Tote am Strand angeschwemmt, die nicht mehr identifiziert werden konnten und anonym blieben. Ihnen schuf man seit dem 19. Jahrhundert besondere Begräbnisplätze. Die Bezeichnungen dieser auf den Inseln eingerichteten Friedhöfe sind von Ort zu Ort unterschiedlich: Friedhof der Heimatlosen, Friedhof der Namenlosen, Seefahrerfriedhof oder auch "Drinkeldoden-Karkhof". Sie sind bis heute auf Sylt, Amrum, Pellworm, Neuwerk oder Spiekeroog Bestandteil der Insellandschaft. Meist markieren einfache Holzkreuze die einzelnen Grabstätten - manchmal versehen mit dem Tag des Leichenfundes am Strand. Bisweilen, wie auf der ostfriesischen Insel Spiekeroog, handelt es sich um den Begräbnisplatz für ein einzelnes Schiffsunglück.

Wie das Beispiel der nordfriesischen Insel Sylt zeigt, markierte die Anlage der Namenlosen-Friedhöfe eine Art Wendepunkt im Umgang mit den angeschwemmten Leichen. Zuvor hatte man sich, wie auch auf anderen Inseln. mehr für die Ladung gestrandeter Schiffe als für die Rettung der Besatzung interessiert. Nicht zufällig liegt die Anlage des Namenlosen-Friedhofs Mitte des 19. Jahrhunderts (1855) zeitlich parallel zum Aufstieg Westerland als Sylter Seebad - die Inselbewohner wollten angesichts der zunehmenden Zahl städtisch-bürgerlicher Badegäste nicht mehr für Strandräuber gehalten werden. Die letzte Beisetzung fand 1905 statt, zwei Jahre später wurde dieser Friedhof geschlossen. Die Strandleichen wurden danach auf den regulären Inselfriedhöfen in Westerland, List und Keitum beigesetzt. Auf der Nachbarinsel Amrum gibt es ebenfalls einen "Friedhof der Namenlosen". Die erste Bestattung geschah am 23. August 1906 - auch hier fast parallel zur Einrichtung eines Seebades auf der Insel. Die schlichten Holzkreuze verzeichnen jeweils das Datum des Fundes, und einige Daten stammen sogar noch aus der jüngeren Vergangenheit, das letzte aus dem Jahr 1963. Auf der Insel Pellworm wurde der Namenlosen-Friedhof 1895 eingeweiht. Wenn die unbekannten Strandleichen keinen eigenen Friedhof erhielten, so sprach man ihnen einen kleinen Bereich des örtlichen Kirchhofs zu. Allerdings wurden sie dann - wie im Land Wursten an der Wesermündung - in aller Stille beigesetzt.xlix

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