Vortrag am 4. Nov. 2006 in Stade

3. Die Sturmflutserien

Aber bereits in den 1660er Jahren verschärfte sich der staatliche Zugriff, die Eingriffe in das regionale Deichwesen nahmen zu. Damit wollte man den aus Sicht der Obrigkeit vorhandenen Missständen begegnen. Gerade die Kehdinger Deiche standen in der Kritik. Es waren vor allem die Folgen einer Serie von vier schweren Sturmfluten zwischen dem 19. Oktober 1663 und dem Neujahrstag 1664, die die Regierung erneut auf den Plan rief. Diese Sturmfluten zogen in Kehdingen schwere Schäden nach sich und offenbarten vor allem im Kirchspiel Hamelwörden gravierende Schwachstellen in der Deichunterhaltung und -sicherung.1

Zurück zum Neujahrstag 1664: Eine staatlcihe Kommission wurde eingesetzt, die eine systematische Bestandsaufnahme der Schwachstellen im Deichwesen leisten sollte. Aus ihrem am 2. Januar 1664 abgelieferten Bericht ging hervor, dass auch die Reparaturarbeiten nach den Sturmfluten zu wünschen übrig ließen. So konnten bereits ausgebesserte Deiche durch die Fluten immer wieder neu beschädigt werden - selbst dort, wo zusätzliche Steindämme der Sicherung dienten. Begonnene Reparaturarbeiten mussten notgedrungen immer wieder unterbrochen werden, weil es schlichtweg an den notwendigen Arbeitsmaterialien (Holzpfähle, Flecken) sowie Koyerkarren, also den zum Transport der Deicherde dienenden Schubkarren, fehlte.2 Letztere mussten in großer Zahl aus Stade erst noch erbeten werden.3

Immerhin: Die aufwändige Sicherung des Deiches durch Steine war eine recht neue Technik, die aus dem 17. Jahrhundert auch von der gegenüberliegenden holsteinischen Elbseite bekannt war - unter anderem wurde ein so genannter Steindeich 1635 für die Wilstermarsch erwähnt.4 Allen Beteiligten war offensichtlich klar geworden, dass der fortschreitende Uferabbruch die Deiche einer enormen Bedrohung aussetzte, der mit herkömmlichen Methoden nicht mehr begegnet werden konnte.

Die Stader Obrigkeit beauftragte nach Vorlage des Berichts unverzüglich ein Mitglied der Stader Justizbehörde, den Justizrat und Hofgerichtsassessor Valentin Musculus von Mausen (später Mausen von Löwenfels), sich der Sache persönlich anzunehmen. Von Mausen, der seit 1659 Mitglied der Justizbehörde war,5 begab sich bereits am 8. Januar mit einem Ewer von Stade nach Drochtersen, um mit den Betroffenen die Lage zu besprechen. Man kam überein, an den schadhaften Stellen "Kesselseels" anzulegen (wie man in Kehdingen halbkreisförmige Rückdeichungen nannte), um kein Risiko einzugehen und die für das Land so wichtige Sommersaat vor Überschwemmungen zu bewahren. Die neue Deichlinie sollten von den Geschworenen nach einer Skizze, die Justizrat von Mausen angefertigt hatte, vor Ort markiert werden. In die Planungen einbezogen wurde auch der Bau einer neuen, gemeinschaftlich zu errichtenden Schleuse für Wolfsbruch.6

Diese betrafen vor allem die Verteilung der neuen Deichstrecken und die Frage, ob der neue Deich mit einem so genannten Fußdeich (also einer halbhohen, unten am Deichkörper beginnenden Verstärkung) zusätzlich gesichert werden sollte.7 Insbesondere die Konflikte über die Verteilung der neuen Deichstrecken weiteten sich rasch aus. Im Mittelpunkt stand Deichgräfe Augustin Goeben, der nicht nur selbst zu den betroffenen Interessenten gehörte, sondern in seinem Deichkabel auch eine besonders stark beschädigte Stelle zu beklagen hatte. Goeben weigerte sich schlichtweg, das geforderte, 40 bis 50 Ruthen messende Kesselseel zu legen, weil es für ihn die zu unterhaltende Deichstrecke erheblich ausgeweitet haben würde. Statt dieser punktuellen Rückdeichung schlug er eine gemeinschaftlich vorzunehmende allgemeine Verkürzung der Deichlinie vor. Diese hätte jedoch die Ausdeichung weiterer Nutzflächen zur Folge gehabt und wurde daher von den anderen Interessenten abgelehnt. Letztere verwiesen im übrigen darauf, dass ihre eigenen Deichstrecken in relativ gutem Zustand seien und meinten, dass Goeben nach althergebrachtem Deichrecht verpflichtet sei, die geforderte Einlage um seinen eigenen Deichbruch zu legen. Auch Justizrat von Mausen sprach sich gegen Goebens Vorschlag aus. Als Zugeständnis erklärten sich die übrigen Interessenten bereit, für die notwendigen Arbeitsmaterialien zu sorgen sowie den Arbeitsleuten Nachtlager und Bier bereit zu stellen. Darüber hinaus boten die von einem Deichbruch an dieser Stelle ebenfalls bedrohten Kirchspiele Oederquart, Assel und Drochtersen ihre Hilfeleistung an. So konnte die Umdeichung der schadhaften Deichstrecke in Angriff genommen werden. Neben den zuständigen Deichgräfen und Geschworenen wurden zu den Wischhafener Deicharbeiten übrigens auch sachverständige Werkmeister hinzu gezogen - ein weiterer Hinweis auf den Willen der Regierung, das Kehdinger Deichwesen zu "professionalisieren".8

Erstmals also mischte sich die Landesherrschaft als Reaktion auf die Katastrophenserie 1663/64 massiv in die konkreten Belange der Schauungen, Deichgräfen und Interessenten ein. Sie tat dies vor allem auf zwei Ebenen: Erstens ließ sie sich regelmäßig von den verantwortlichen Deichgräfen Bericht erstatten, zweitens entsandte sie spezielle Beauftragte, die die Deiche vor Ort inspizierten. Dies stieß in den einzelnen Schauungen nur dann auf Zustimmung, wenn konkrete staatliche Hilfsmaßnahmen in Aussicht standen. Die Interessenten selbst - und damit die Verantwortlichen für die Deiche - waren weder in der Lage gewesen, dem Uferabbruch vor den Wischhafener Deichen rechtzeitig vorzubeugen, noch konnten sie den Folgen der Sturmflutserie 1663/64 mit eigenen Ressourcen angemessen begegnen.

Im übrigen bieten die Quellen aufschlussreiche Einblicke in die Organisation und Technik des Deichbaues jener Epoche. Das eigentliche Fachwissen zur Reparatur der Deiche im Kirchspiel Hamelwörden wurde seitens der Obrigkeit bei den Militäringenieuren gesucht - personifiziert durch den Fortifikationsoffizier Dionys Bredekow. Seit 1659 im Bremischen tätig, hatte er sich unter anderem 1661/62 im Deichbau des Landes Wursten engagiert (und dabei eine Landkarte der Wurster Deiche gezeichnet). Bredekow nahm sich zusammen mit dem Fort-Werkmeister Johann Schnepel im Januar 1664 der Reparatur der Deiche im Kirchspiel Hamelwörden an. Das Schiff, mit dem sie von Stade kamen, hatte zugleich eine große Menge Arbeitsmaterialien geladen, die vor Ort ja auch dringend benötigt wurden. Die Stader Fortifikation hatte auf Anweisung der Regierung über 200 Schubkarren sowie Handrammen, Schlagwerkzeuge und Bohlen (die als so genannte Koyerdielen auf den morastigen Boden gelegt wurden) zur Verfügung gestellt.9 Darüber hinaus wies die Obrigkeit die beiden Kehdinger Landesteile an, 300 Mann zu den Reparaturarbeiten abzustellen. Während Werkmeister Schnepel die Arbeiten koordinierte, fungierten die beiden damaligen Kehdinger Landesgräfen Stein und Korff als eine Art Oberaufsicht.10

Materialien und Arbeitsgeräte wurden zunächst dazu benutzt, einen Notdeich zu errichten, damit kein weiteres Wasser ins Land strömen konnte. Insbesondere die von mehreren Arbeitsleuten betätigten Handrammen, die der Verankerung von Pfählen im Boden dienten, erwiesen sich bei der Stopfung der Brüche als ausgesprochen hilfreich, gingen aber auch teilweise zu Bruch. Wie der bützflethsche Landesgräfe Stein der Regierung berichtete, wurden die von Stade zur Verfügung gestellten Arbeitsgeräte und Materialien anschließend fast von jedermann ... genommen und gebraucht und weiterverliehen - so begeistert war man in Kehdingen von der fortschrittlichen Technik des Stader Militärs. Allerdings wäre, wie Stein resignierend festhielt, ein Nachweis über die verbliebenen Handrammen und anderen Arbeitsgeräte kaum noch möglich.11 Daher verwunderten die späteren Streitigkeiten über deren Bezahlung und Rückgabe kaum.12 Erstaunlich ist nur, dass solche in anderen Küstenregionen längst üblichen Arbeitsgeräte bei den Kehdinger Interessenten offensichtlich kaum vorhanden waren.

Stackdeich ab 1634: Archäologische Forschungen haben ergeben, dass der Seedeich des Porrenkoogs bei Husum zeitweilig als Stackdeich ausgeführt war. Die Anfänge des Stackdeichs lagen zwischen 1634 und 1653. Nach 1767 (spätestens 1788) wurde dieser Stackdeich durch einen Bermedeich ersetzt.13

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