Landschaft als kulturwissenschaftliche Kategorie
Vortrag Paris, 8.1.2010

Eine kürzere Fasssung des Textes mit zahlreichen Abbildungen ist erschienen in:
Zeitschrift für Volkskunde 104, Heft I/2008, S. 19-39.


5. Fallstudie: Landschafts-Patchwork im urbanisierten Raum

Fasst man die Ergebnisse der jüngeren Landschaftstheorie zusammen, lässt ich „Landschaft“ als unterschiedlich ausgebildete Repräsentation von Umgebung definieren. [27] Wenn also im Folgenden der Blick auf eine verstädterte Region gelenkt wird, um dem (post-) modernen Landschaftswandel auf die Spur zu kommen, so geschieht dies nicht zuletzt als Analyse der gesellschaftlich-kulturellen Rahmenbedingungen. Ihnen ist der Wandel der Wahrnehmung geschuldet, der seinerseits von den Wechselwirkungen zwischen Natur, Kultur und Gesellschaft zeugt, wenn er sich ein Bild von den „neuen“ Landschaften macht – bis hin zu den Abraumhalden am Rand der Großstädte.

Als Beispiel für diese neuartigen Räume zwischen Stadt und Land können die verstädterten Flächen im großstädtischen Umland dienen. Einige von diesen Agglomerationen sind inzwischen unter dem Begriff „Metropolregion“ [28] zu grenzüberschreitenden Wirtschafts- und Planungsräumen geworden. Sie verkörpern exemplarisch jenen Paradigmenwechsels, der das alte Konzept der europäischen Stadt mit ihren klaren Stadt-Umland-Grenzen ersetzt durch das offene Konzept der Diffusion von Stadt und Land. So wird die alte, klassische Vorstellung geschlossener räumlicher Einheiten mit ihrer identitätsstiftenden Wirkung aufgelöst zugunsten eines räumlichen Patchworks von Kleinlandschaften, das ein pluralistisches Angebot von Nutzungs- und Wahrnehmungschancen offeriert und damit zugleich deren jeweiliger Eigenlogik gerecht wird.

Das Hamburger Umland bzw. die Metropolregion Hamburg (seit 1995) ist ein Modell für die sich verändernden, neu austarierten Lebenswelten im Spanungsfeld zwischen Stadt und Land. Wie kam es dazu? Ausgang war der Wandel der räumlichen Strukturen, der sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg entfaltete und eng verbunden war mit einem Modernisierungsschub für zuvor ländlich-agrarisch geprägte Regionen. Es war jene Periode zwischen 1950 und 1970, die von Regionalsoziologen mit dem Stichwort „fordistische Modernisierung“ umschrieben wird. [29] Dabei handelte sich um einen allgemeinen Prozeß, der zunächst eine den Gesetzen des Marktes folgende wirtschaftliche Eigendynamik zeigte, in deren Folge ländliche Regionen von gewerblich-industrieller Massenproduktion und ihren Folgeerscheinungen wie Masseneinkommen und –konsum überformt wurden. Zugleich war dieser Modernisierungsprozeß mit dem politischen Ziel verknüpft, durch eine Verbesserung der Infrastruktur ländliche Lebensformen den städtischen Standards anzugleichen - also das Wohlstandsgefälle zwischen Stadt und Land zu mildern und tendenziell aufzuheben.

In diesem Zusammenhang wurden auch die räumlichen Strukturen verändert und funktional ausdifferenziert. Im Hamburger Umland unterlag der Modernisierungsprozeß frühzeitig dem Instrumentarium der Regionalplanung. Es lenkte den räumlichen Wandel, in dessen Verlauf zuvor ländlich-agrarische Gebiete funktional neu strukturiert und systematisch aufgegliedert wurden in Wohn- und Gewerbeflächen, Verkehrsachsen, Freizeit- und Naherholungsflächen, Landschafts- und Naturschutzgebiete. Es ging um, wie es aus fachspezifischer Perspektive heißt, die raumplanerische „ ... Bereitstellung von Nutzflächen für ausgewogene Befriedigung menschlicher Bedürfnisse“. [30] Der Soziologe Rolf Peter Sieferle spricht von der „totalen Landschaft“. [31]

Im Rahmen dieser räumlichen Ausdifferenzierung des Hamburger Umlandes erhielt auch die Natur eine neue Rolle zugewiesen – und damit der Ausgangspunkt von „Landschaft“ im klassisch-ästhetischen Sinn. Sie wurde zum kompensatorischen Äquivalent innerhalb eines sich gewerblich-industriell verdichtenden und zunehmend verstädternden Raumes. Gerade weil man die Natur aus dem allgemeinen Strukturwandel ausgliederte, gleichsam „stillstellte“, wurde sie auf dialektische Weise zum unauflöslichen Bestandteil dieses Wandels. Der höchste Ausdruck dieses “Stillgestellt-Seins” ist das Naturschutzgebiet. Es ist das kompensatorische Äquivalent zu den postsuburbanen Lebenswelten des Hamburger Umlandes. Natur und Landschaft wurden ebenso zum funktionalen Element einer neuen, modernen Topographie wie Wohnblocks, Gewerbeflächen und Verkehrsachsen.

So ist auch in den postmodernen verstädterten Lebenswelten das historische Reservoir klassischer Landschaftsvorstellungen keineswegs vergessen. Im Gegenteil: Die Produktion von Mikrolandschaften schöpft aus der Schatzkammer des Pittoresken. So werden historisch-ländliche Ensembles um den pittoresken Dorfanger denkmalpflegerisch restauriert, Fluss- und Teichlandschaften renaturiert oder Landschafts- und Naturschutzgebiete ausgewiesen. Gerade die Idee des Landschafts- und Naturschutzes gründet ja in der klassischen Vorstellung geschlossener und „unberührter“, sich selbst überlassener Landschaften. Heutzutage sind sie jedoch nicht selten angesiedelt zwischen Verkehrsachsen, Gewerbegebieten und verstädterter Bebauung.

Auf andere, miniaturisierte Weise lebt das klassische Landschaftsverständnis fort in den sorgsam modellierten Indoor-Landschaften, wie den vielen „Center Parcs“ oder dem „Tropical Island“ bei Berlin. Die Sehnsucht nach Landschaft wird in diesen Indoor-Imaginationen temporär bedient, aber wichtiger ist die verkehrsgünstige Lage, die nach wenigen Stunden die rasche Reise zur nächsten Mikrolandschaft ermöglicht. Dennoch: Wie einst die Anlage von Englischer Gärten inmitten der Städte, so zeigen diese Indoor-Imaginationen, dass das klassische Landschaftsideal gerade innerhalb des urbanen Raumes seine Wirkung nach wie vor zu entfalten vermag. Vielleicht ist es der allzu augenfällige Verlust realer Natur, die hier die kompensatorische Sehnsucht nach der Ideallandschaft weckt. [32] Deswegen sind die Indoor-Imaginationen legitime Nachfolger der englischen Landschaftsgärten.

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Quellen

[27]
Als Übersicht zur Geschichte des Landschaftsbegriffes siehe Norbert Fischer: Landschaft als kulturwissenschaftliche Kategorie. In: Zeitschrift für Volkskunde, … S. 19-39. Die Bandbreite neuerer landschaftshistorischer Forschungen können – jenseits theoretischer Studien – folgende Beispiele illustrieren: Landschaften: Kulturelles Erbe in Europa. Cultural Heritage and Landscapes in Europe. Proceedings of the International Conference, Bochum June 8-10, 2007. Edited by Christoph Bartels and Claudia Küpper-Eichas, Bochum 2008; Hansjörg Küster, Schöne Aussichten. Kleine Geschichte der Landschaft, München 2009; David Blackbourn. The Conquest of Nature. Water, Landscape and the Making of Modern Germany. London 2006 (dt.: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft. München 2007); Thomas M. Lekan, Thomas Zeller (Hrsg.). Germany’s Nature. Cultural Landscape and Environmental History. New Brunswick u.a. 2005.

[28]
Adam, Brigitte: Metropolregionen als Forschungsgegenstand. Aktueller Stand, erste Ergebnisse und Perspektiven. In: Informationen zur Raumentwicklung 2005, 7, S. 417-430; E. Martin Döring u.a. (Hrsg.), Stadt – Raum – Natur. Die Metropolregion als politisch konstruierter Raum. Hamburg 2003; Norbert Fischer: Mikrolandschaft und Metropolregion. In: Dirk Brietzke, Norbert Fischer, Arno Herzig (Hrsg.): Hamburg und sein norddeutsches Umland. Aspekte des Wandels seit der Frühen Neuzeit. Hamburg 2007, S. 401-414.

[29]
„Fordistisch“ nach dem US-Industriellen Henry T. Ford; in verstädterten Zonen ist der Beginn der „fordistischen Modernisierung“ erheblich früher anzusetzen. Siehe zum Begriff Detlev Ipsen: Das Verhältnis zwischen Stadt und Land im historischen Wandel. In: Detlev Ipsen (Hg.): Stadt und Region – StadtRegion. Kassel 1995, S. 7-23, hier S. 16-20.

[30]
Benno Werlen: Landschaft, Raum und Gesellschaft – Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte wissenschaftlicher Sozialgeographie. In: Geographische Rundschau 47, 1995, Heft 9, S. 513-522, hier S. 517.

[31]
Rolf Peter Sieferle, Die totale Landschaft. In: Kursbuch 131 (1998), S. 155-169, hier S. 165.

[32]
Gerhard Lenz: Verlusterfahrung Landschaft. Über die Herstellung von Raum und Umwelt im mitteldeutschen Industriegebiet seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Frankfurt/M.; New York 1999.

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