Landschaft als kulturwissenschaftliche Kategorie
Vortrag Paris, 8.1.2010

Eine kürzere Fasssung des Textes mit zahlreichen Abbildungen ist erschienen in:
Zeitschrift für Volkskunde 104, Heft I/2008, S. 19-39.


2. Historische Rückblende: Der klassische Landschaftsbegriff

Wie sich „Gesellschaft in den Raum zeichnet“, werden wir später anhand einer Fallstudie noch sehen. Blicken wir aber zunächst auf die Genese und Entwicklung des neuzeitlichen Landschaftsbegriffes. In aller Regel ist er mit einer Ästhetisierung der Natur verknüpft. Der Philosoph Joachim Ritter sieht den Ursprung des modernen Landschaftsbegriffs in jener gesellschaftsspezifische Anschauung von Natur, die sich angesichts der Entfremdung menschlicher Arbeit entfaltet hat. [2] Ritter schrieb in seinem wegweisenden Aufsatz über die ästhetische Funktion des bürgerlichen Landschaftsverständnisses, dass erst die Auflösung des geschlossenen christlich-metaphysischen Weltbildes sowie die zunehmende (technische) Beherrschung der Natur erlaubte, dieser zweckfrei gegenüberzutreten und sie zu ästhetisieren – ein Prozess, dessen Anfänge er historisch im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit verortet. [3] Dieser Prozess entfaltete sich komplementär mit dem „Verschwinden des lebensweltlichen Eingelassenseins in Natur“, wie Ruth und Dieter Groh in ihrer Studie über „Weltbild und Naturaneignung“ vermerken. Landschaft wurde nun Kunst und Natur zugleich und ermöglichte einen Blick auf die Welt als „harmonisches Ganzes“. [4]

Als Katalysator dieser ästhetischen Wahrnehmung von Natur fungierte die Landschaftsmalerei, die sich seit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, vor allem im 16. und 17. Jahrhundert, in Italien, Deutschland, den Niederlanden und Frankreich entfaltete. [5] In den wirtschaftlich und politisch reüssierenden Niederlanden des 17. Jahrhunderts beispielsweise wurde die Landschaftsmalerei – etwa mit Jacob van Ruisdael und Jan van Goyen – zu einer eigenen erfolgreichen Gattung. Es war ja gerade die Beherrschung der Natur (hier des Meeres), die in den Niederlanden die Grundlage ihres „Goldenen Zeitalters“ bildete, welches seinen kulturellen Reichtum nicht zuletzt in den Landschaftsgemälden ausdrückte. [6]

Die Landschaftsmalerei lieferte gleichsam eine neue Brille: „Ohne selbst künstlerisch tätig zu werden, bedient sich der Betrachter der Landschaft einer Praxis des Sehens, die die Maler erfunden haben … So stellt die Produktion der Landschaft einerseits eine eigenständige künstlerische Leistung des Betrachters, zugleich aber auch eine Nachahmung der künstlerischen Verfahrensweise dar.“ [7] In der Folge führte die Wahrnehmung von Landschaft als „schöner Gegend“ zu zahlreichen bedeutungsgeladenen Landschaftsbildern, nicht zuletzt in der Epoche der Romantik.

Die Wahrnehmung der Natur durch die Brille der Landschaftsmalerei wurde nicht nur in der schöngeistigen Literatur vielfach aufgegriffen, [8] sondern materialisierte sich in der realen Umgebung. Dies zeigte insbesondere die Anlage beziehungsweise landschaftliche Neugestaltung von Gärten und Parks seit dem 18. Jahrhundert – nicht zufällig wurden diese wiederkehrend als „irdische Paradiese“ bezeichnet. [9] Ein englischer Landschaftspark wie Stourhead (Wiltshire, 1741-1780) entstand nach direkten Vorbildern der Landschaftsmalerei. Aus Landschaftsidealen wurden konkrete Ideallandschaften. [10]

Es ist bezeichnend, dass sich diese realen Produkte der Landschaftsästhetik im 18. Jahrhundert zu entfalten begannen. Es war jene Epoche, in der das ingenieurhafte „Vermessen, Zählen, Berechnen“ des Raumes und der Natur einem ersten Höhepunkt entgegenstrebte. [11] So erscheinen die Landschaftsparks als kompensatorische Fluchtpunkte innerhalb einer Epoche, in der vemehrt rationale Strukturen die Alltags- und Lebenswelten erfassten. Die Parks dienen dem flanierenden Publikum als Ort der Kontemplation. Gartenarchitekten wie Friedrich Ludwig von Sckell, [12] Gestalter des Englischen Gartens in München (1810), wurden in der Folgezeit zu Agenten zwischen Wunsch und Wirklichkeit, indem sie reale Ideallandschaften inmitten der Städte schufen. Ihr Landschaftsideal wurde im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auch in der Gestaltung städtischer Friedhöfe und Zoologischer Gärten aufgegriffen. [13]



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Quellen

[2]
Ruth und Dieter Groh: Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur. Frankfurt/Main 1991, S. 92-140.

[3]
Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: Ders.: Subjektivität, Frankfurt/M. 1974, S. 141-166. Siehe zur Rezeptionsgeschichte von Ritters Thesen Groh, Groh (wie Anm. 21), S. 150-170.

[4]
Groh, Groh (wie Anm. 21), S. 97 und S. 108.

[5]
Nils Büttner: Geschichte der Landschaftsmalerei. München 2006, S. 73 ff.; Thomas Ketelsen: Böhmen liegt am Meer. Die Erfindung der Landschaft um 1600. Hamburg 1999.

[6]
Simon Schama: Überfluss und schöner Schein - zur Kultur der Niederlande im Goldenen Zeitalter. Frankfurt/M. 1989.

[7]
Antonia Dinnebier: Der Blick auf die schöne Landschaft – Naturaneignung und Schöpfungsakt? In: Ludwig Fischer (Hrsg.): Projektionsfläche Natur – Zum Zusammenhang von Naturbildern und gesellschaftlichen Verhältnissen. Hamburg 2004, S. 61-76, hier S. 72.

[8]
Manfred Schmeling (Hrsg.): Das Paradigma der Landschaft in Moderne und Postmoderne. Würzburg 2007.

[9]
Andrea van Dülmen: Das irdische Paradies. Bürgerliche Gartenkultur der Goethezeit. Köln, Weimar, Wien 1999.

[10]
Immer noch grundlegend Adrian von Buttlar: Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik. Köln 1989 (erw. Neuausgabe).

[11]
Lars Behrisch (Hrsg.): Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raumes im 18. Jahrhundert. Frankfurt/M., New York 2006.

[12]
Volker Hannwacker: Friedrich Ludwig von Sckell. Der Begründer des Landschaftsgartens in Deutschland. Stuttgart 1992.

[13]
Barbara Leisner: Ästhetisierung der Friedhöfe. Die amerikanische Parkfriedhofsbewegung und ihre Übernahme in Deutschland. In: Norbert Fischer, Markwart Herzog (Hrsg.), Nekropolis. Der Friedhof als Ort der Toten und der Lebenden. Kohlhammer Stuttgart, 2005, S. 59-78; zur landschaftlichen Gestaltung Zoologischer Gärten am Leitbild Hagenbecks Tierpark in Hamburg siehe Matthias Gretzschel, Klaus Gille, Michael Zapf: Hagenbeck. Ein zoologisches Paradies. Bremen 2007, S. 35-63; Arne Steinert: Illusionen statt Belehrung – Hagenbecks Zookonzept setzt sich durch. In: Natur – Kultur (wie Anm. 13), S. 305-316.

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