Landschaft als kulturwissenschaftliche Kategorie
Vortrag Paris, 8.1.2010

Eine kürzere Fasssung des Textes mit zahlreichen Abbildungen ist erschienen in:
Zeitschrift für Volkskunde 104, Heft I/2008, S. 19-39.


3. Der Landschaftsbegriff im neuzeitlichen Wissen

Erstaunlicherweise fand „Landschaft“ als selbstständiger Begriff nur schrittweise Eingang in die neuzeitlichen Lexika und Enzyklopädien, also den Wissensbestand der jeweiligen Epochen. Weder in Zedlers Universal Lexikon von 1737 [14] noch – gut 70 Jahre später – im Ur-Brockhaus von 1809 taucht der Begriff „Landschaft“ als eigenständiges Stichwort auf. Im Ur-Brockhaus erscheint der Begriff allerdings unter anderen Einträgen: etwa unter „Mahlerei“ [15] oder in einem naturkundlich-geografischen Verständnis, das punktuell auch ästhetische Aspekte aufnimmt. So heißt es über „Campanien“: „ … diese besonders wichtige Landschaft des alten Italiens, am tyrrhenischen Meere gelegen, war merkwürdig, theils um ihrer Naturbegebenheiten – ein brennender Vesuv, die phlegräischen Felder, der Avernussee – theils um der außerordentlichen Fruchtbarkeit, die das Land an Weizen, Oelen, Weinen etc. hatte, theils um der treflichen Anlagen willen, welche die römischen Großen, durch die herrliche Lage dieser Landschaft gereizt, hier zu Stande brachten, und sie zu ihrem fast immerwährenden Aufenthalt wählten.“ [16]

Die weitere Geschichte der Lexika und Enzyklopädien im 19. Jahrhundert zeigt dann die zunehmende Ausdehnung des Begriffspotenzials. Der Wissensvorrat, den der Landschaftsbegriff repräsentiert, wird einerseits größer, andererseits gewinnt „Landschaft“ als eigenständiges Stichwort an Raum gegenüber den zuvor herrschenden Komposita und Unterordnungen. Dies verdeutlicht Grimms ab 1854 erschienenes „Deutsches Wörterbuch“, das „Landschaft“ zunächst im Sinn von „landcomplex, zusammenhangender landstrich“ definiert. Weiter heißt es dann: „gegend, landcomplex in bezug auf lage und natürliche beschaffenheit“ sowie „landschaft, als ein sozial zusammenhängendes ganzes, gegend“. Und: „namentlich in neueren quellen mit rücksicht auf den eindruck, den eine solche gegend auf das auge macht … … die künstlerische bildliche darstellung einer solchen gegend.“ Der bei Grimm aufgeführte Diminutiv „Landschäftchen“ als „kleine landschaft“ ist heute im Hochdeutschen nicht mehr gebräuchlich. [17]

Endgültig dokumentiert Meyers Großes Konversations-Lexikon von 1905 die im bürgerlichen Zeitalter gewonnene Multidimensionalität des Landschaftsbegriffs. Gleich über mehrere Seiten wird „Landschaft“ in unterschiedlichen Bedeutungen einschließlich Komposita erläutert. [18] Demnach ist Landschaft „jeder Ausschnitt der Erdoberfläche, den wir von einem bestimmten Standort aus zu überblicken vermögen, bis im Horizont oder Gesichtskreis Erde und Himmel zusammenzustoßen scheinen. Jede L.[andschaft] kann unter einem naturwissenschaftlichen, unter einem künstlerischen oder unter einem kulturgeschichtlichen Gesichtspunkte betrachtet werden.“ [19] Und weiter: „Jede L.[andschaft] zeigt Farben und Formen; die erstern sprechen mehr zu schauenden Empfindung, die letztern sind dauerhafter und wenden sich mehr an den Verstand; Schönheit können beide im reichsten Maße bieten.“ [20] Meyers Konversations-Lexikon umgreift 1905 damit das gesamte Spektrum des im bürgerlichen Zeitalter ausgeprägten Landschaftsbegriffs: vom naturkundlichen Verständnis einer Gegend mit besonderen Charakteristika hin zur ästhetisiert-empfindsamen Anschauung der „schönen“ Natur.

Zugleich war Landschaft im Sinn von „ländlicher Gegend“ zur Antithese von Stadt geworden. Diese Antithese gewann im Zeitalter von Industrialisierung und Urbanisierung um 1900 immer größere Bedeutung. Die ursprüngliche, von der Malerei vorgeprägte Bedeutung von Landschaft floss insofern ein, als sie dem romantischen Blick des Stadtbürgers auf einen idealerweise als unverfälscht-„rural“ empfundenem Raum zu Grunde lag. So wurde Landschaft nicht zuletzt zum Fluchtpunkt bürgerlicher Sehnsüchte.

nach oben




Quellen

[14]
Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universal-Lexikon, Band 16, Halle, Leizpig 1737 (Nachdruck Graz 1961).

[15]
Conversations-Lexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch (1809-1811). Neuausgabe CD-ROM Berlin 2005 (Digitale Bibliothek 131), S. 2811.

[16]
Ebd., S. 7808

[17]
Deutsches Wörterbuch. Elektronische Ausgabe der Erstbearbeitung von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm CD-ROM Frankfurt/Main 2004, Band 12, Sp. 131-133.

[18]
Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage. Zwölfter Band. Leipzig und Wien 1905, S. 121-125.

[19]
Ebd., S. 121.

[20]
Ebd., S. 122.

nach oben