Landschaftsgeschichte: Region, Natur und Kultur


2. Fallstudie I: Nehrungslandschaft

Kommen wir zur ersten Fallstudie: Graswarder und Steinwarder bilden zusammen eine Nehrungslandschaft an der holsteinischen Ostseeküste nahe des Seebades Heiligenhafen. Beide Warder waren über Jahrhunderte hinweg voneinander getrennt, bevor sie in den 1950er Jahren zusammenwuchsen. Heute ist der Graswarder mit seinen bis zu 2,20 Meter hohen Strandwällen und Salzwiesen zum großen Teil Naturschutzgebiet mit einer Fläche von rund 230 Hektar sowie – seeseitig – mit zumeist historischen Strandvillen bebaut. Der sich westlich anschließende Steinwarder hingegen hat sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts zum Hauptbadestrand von Heiligenhafen entwickelt und wird seit den 1970er Jahren von einem großdimensionierten Ferienzentrum geprägt.

Zur Naturgeschichte des Graswarder schreibt Klaus Dürkop: „Die Landschaft um die Stadt Heiligenhafen wird von Moränenzügen mit einem seewärts begrenzenden Steilufer geprägt. Die dort anstehenden Ablagerungen aus der Saale- und Weichseleiszeit bestehen hauptsächlich aus Geschiebemergel mit Gesteinsblöcken, Steinen, Kiesen, Sänden oder auch Schluffen. Diese Materialien werden ständig aufgearbeitet, in bewegliches Material zerlegt und dann weitgehend küstenlängs nach Osten verfrachtet. … … Lässt die Strömungsenergie nach, wird ein Teil des Materials für einen weiteren Transport zu schwer, und es kommt zu Strandwällen, die sich fächerartig immer wieder an die alten anlegen. Im so genannten Strömungsschatten schwenken sie landeinwärts nach Süden. Allein in den vergangenen 60 Jahren haben sich so vier neue Strandwallhaken mit einer Fläche von 12 Hektar entwickelt.“ [4]

Bereits im frühen 19. Jahrhundert war der Graswarder durch einen Damm mit der Stadt Heiligenhafen verbunden worden. Dieser Damm wurde um 1900 durch eine Holzbrücke abgelöst. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurden auf der sandigen, von Dünen geprägten Seeseite des Graswarders Strandvillen errichtet, die bis heute ein relativ einheitliches architektonisches Ensemble bilden – auch wenn einige Bauten inzwischen neueren Ursprungs sind. Erschlossen werden diese Bauten durch einen südlich von ihnen verlaufenen Sandweg, der zugleich teilweise die Grenze zum Naturschutzgebiet markiert. 14 teils reetgedeckte Strandvillen stehen zusammen mit dem – nur für Anlieger befahrbaren, im Übrigen mit einer Schranke abgesperrten – Sandweg seit 2008 unter Denkmalschutz.

Die Geschichte dieser Strandvillen, die das Landschaftsbild des Graswarder nachhaltig prägen und zu den bekanntesten Ansichten Schleswig-Holsteins zählen, geht zurück auf den Versuch, Heiligenhafen um 1900 touristisch zu erschließen. Zuvor hatte es nahe der Stadt lediglich ein größeres Gästehotel gegeben, das immerhin schon mit dem Strand des Graswarder warb. Im Übrigen zeigte sich die von Bauern, Handwerkern, Schiffern und Fischern geprägte Stadt als beschaulich – Theodor Storm beschrieb sie in seiner 1881/82 entstandenen Novelle „Hans und Heinz Kirch“. Die Fertigstellung einer Bahnlinie in die nahe ostholsteinische Stadt Oldenburg ließ jedoch Hoffnungen auf wachsenden Fremdenverkehr keimen. Neben Badehäusern wurde 1889 am westlichen Ende des Graswarder – auf dem Platz des späteren Inselcafés und heutigen „Berliner Lagers“ – die so genannte Warderhalle als Restaurationsbetrieb errichtet. Beflügelt von der später auch erfüllten Hoffnung auf einen eigenen Bahnanschluss warb man nun verstärkt um Badegäste. 1895 wurde die „Deutsche Badegesellschaft Heiligenhafen A.-G.“ gegründet, führend beteiligt waren ein Arzt (Alfred Neidhardt) und ein Apotheker (Hubert Friedrichs) aus Heiligenhafen, der städtische Bürgermeister Adolf Schaetling sowie zwei Kaufleute. Die Gesellschaft pachtete den Strand von Gras- und Steinwarder auf seiner gesamten Länge, unter anderem um dort Bauplätze zu verkaufen und das Terrain touristisch zu erschließen. [5]

Während sich jedoch – unter anderem aus Kapitalmangel – die großdimensionierten, unter anderem einen Hotelbau umfassenden Projekte um 1900 nicht verwirklichen ließen, schritt der Verkauf der Bauplätze auf dem Graswarder mit seinem attraktiven Badestrand zügig voran. In einem städtischen Prospekt aus dem Jahr 1901 hieß es: „Eine Reihe niedlicher Privatvillen, deren Zahl sich voraussichtlich von Jahr zu Jahr noch vergrößern wird, geben dem Landschaftsbild eine willkommene Abwechslung. Um solche Strandvillenbauten bestens zu fördern, hat die Stadt bisher unter gewissen Bedingungen bei Nichtspekulanten für ein Quadratmeter Baugrund nru einen Pfennig Kaufgeld berechnet. Die Villen liegen direkt am Strand, so dass deren Sommergäste direkt von den Villen aus Seebäder nehmen können.“ [6] Die meisten dieser Villen sind erhalten geblieben, einige wurden – etwa nach Sturmflutzerstörungen – neu errichtet. Bis heute prägt das gesamte denkmalgeschützte Ensemble, wie gesagt, die Landschaft vor Heiligenhafen entscheidend.

Ebenfalls landschaftsprägend ist die sich südlich daran anschließende Nehrungslandschaft mit ihren Strandwällen – das Gebiet mit seiner Fläche von rund 230 Hektar steht seit 1968 landesgesetzlich unter Naturschutz. Neben zahlreichen küstentypischen Pflanzen gibt es gegenwärtig es rund 40 Brutvogelarten, darunter bis zu 22 Arten von Wat- und Wasservögeln. In den Zeiten des Vogelzuges kommen weit über 100 andere Vogelarten zum Graswarder, um dort kurzfristig zu rasten oder auch einige Monate zu bleiben. „Charaktervogel“ des Graswarder ist die – bereits von Theodor Storm in seiner Novelle verzeichnete – Sturmmöwe mit ihrer dichtbesiedelten Brutkolonie. [7]

Die auf Betreiben des oben bereits erwähnten, damaligen Lehrers Klaus Dürkop 1968 erreichte gesetzliche Unterschutzstellung des Areals, das vom Naturschutzbund Deutschland (NABU) betreut wird, war nicht zuletzt der Sorge geschuldet, dass die zunehmende touristische Expansion Heiligenhafens die Flora und Fauna des Graswarder gefährden könnte. Zwar hatte sich der Badetourismus in Heiligenhafen trotz der genannten Anstrengungen im frühen 20. Jahrhundert nur allmählich entwickelt – im Jahr 1913 gab es 1 200 Gäste, 1929 dann 4 700. Nach dem Ersten Weltkrieg konzentrierte er sich auf den Steinwarder, nachdem 1920 das „Bad Steinwarder“ eröffnet worden war. [8] Seinen eigentlichen Aufschwung hin zum Massentourismus erlebte der Badebetrieb in Heiligenhafen erst nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere seit der Zeit um 1970: Die Gästezahlen stiegen von rund 10 000 Mitte der 1950er Jahre auf knapp 80 000 Mitte der 1970er Jahre. Eine zentrale Rolle spielte dabei das am Steinwarder in unmittelbarer Strandnähe errichtete Ferienzentrum mit seinen zahlreichen umliegenden Freizeiteinrichtungen. Etwa zur gleichen Zeit wurde zwischen Stein- und Graswarder ein – später noch erweiterter – Yachthafen errichtet. Dessen westliche Grenze bildet ein fester Straßendamm, der zugleich die Stadt Heiligenhafen mit beiden Wardern verbindet. [9]

Resümierend gesagt, zeigt sich das Nehrungssystem von Gras- und Steinwarder auf engem Raum als eine norddeutsche Landschaft, die in besonderem Maß und auf unterschiedliche Weise durch menschlichen Einfluss geprägt und vor allem verändert worden ist: Zum einen die seit der Zeit um 1900 anhaltende und seit der Zeit um 1970 deutlich intensivierte Erschließung als Seebad und Freizeitzentrum; zum anderen die gesetzlich geregelte Konservierung des größten Teils des Graswarders als Naturschutzgebiet und Wasservogelareal – reizvoll flankiert durch ein denkmalgeschütztes Ensemble historischer Strandvillen.

So steht die rasche und verdichtete Bebauung für den Massentourismus (Ferienzentrum, Yachthafen) dem weitgehend sich selbst überlassenen Naturschutzgebiet gegenüber. Hier zeigt sich auch jene kompensatorische Sehnsucht nach vermeintlich unverfälschter Natur und Landschaft, die kulturhistorisch auf eine lange Tradition verweisen kann. Gerade die Idee des Landschafts- und Naturschutzes gründet ja in der klassischen Vorstellung geschlossener und „unberührter“, sich selbst überlassener Landschaften – und die kompensatorische Funktion des Graswarder zeigt sich gerade angesichts des in Sichtweite errichteten riesigen Ferienkomplexes wie auch des benachbarten, modern gestalteten Yachthafens.

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Quellen

[4]
Klaus Dürkop: Der Graswarder bei Heiligenhafen – Eine Küstenlandschaft an der Ostsee und ihre Vogelwelt. In: Norbert Fischer u.a. (Hrsg.): Land am Meer – Die Küsten von Nord- und Ostsee. Hamburg 2009, S. 23-27, hier S. 24.

[5]
Otto Rohkohl: Neue Chronik von Heiligenhafen. Heiligenhafen 1989, S. 121-123.

[6]
Zitiert nach ebd., S. 125.

[7]
Dürkop: Graswarder (wie Anm. 5), S. 24.

[8]
Rohkohl: Heiligenhafen (wie Anm. 6), S. 128-129.

[9]
Ebd., S. 130-131.



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