1. Zur Einführung: Der Friedhof als sepulkrale Landschaft

Die Friedhofskultur befindet sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einem grundlegenden Umbruch. Wichtigstes Merkmal dieses Umbruchs ist die Auflösung der vertrauten räumlichen Strukturen und Gestaltungsprinzipien im Umgang mit den Toten. Diese waren zuvor durch die sichtbar abgegrenzten Einzel- und Familiengrabstätten als wichtigstes Ordnungselement des Friedhofs determiniert. Stattdessen entsteht im frühen 21. Jahrhundert ein neuartiges Mosaik von zumeist naturnahen Miniaturlandschaften. Es repräsentiert das vielfältige Spektrum der gesellschaftlich-kulturellen Wandlungsprozesse in der Postmoderne: Grenzen innerhalb des Friedhofs lösen sich auf, Übergänge werden fließend.

Zugleich verliert der klassische, kommunale bzw. kirchliche Friedhof insgesamt an Bedeutung als Schauplatz von Tod, Trauer und Erinnerung. [2] An seine Stelle treten zunehmend Bestattungsareale in der freien Natur, zum Beispiel in Wald-, Berggebieten oder auch im Meer. Charakteristisch für die sich öffnende, grenzüberschreitende Sepulkralkultur ist zudem das tendenzielle, auch eine neue Ästhetik hervorbringende Auseinanderdriften von Bestattungsort einerseits, Trauer- und Erinnerungsort andererseits. [3]

Dabei sind Kirch- und Friedhöfe seit Jahrhunderten die zentralen Orte der Erinnerung und des Gedächtnisses gewesen. Mit ihrer räumlichen Struktur, ihren sepulkralen Monumenten und Bauten berichten sie über den historisch wechselvollen Umgang mit Verstorbenen. [4] „Gedächtnis und Tod entsprechen einander“, vermerkte der französische Dichter Paul Valéry. [5] Der Friedhof hat dem Gefühl der Trauer einen materialisierten Ausdruck gegeben. So kann der Friedhof als ein symbolgeladener kultureller Raum betrachtet werden, der im Lauf der Geschichte unterschiedlich strukturiert und durch diverse Einzelelemente, vor allem Grabmäler, Vegetation und Bauten, zu einer sepulkralen Landschaft verdichtet wurde. Deren Interpretation wiederum verweist zurück auf soziale, wirtschaftliche, religiöse, technische oder (garten-) architektonische Entwicklungen und gibt zugleich Aufschlüsse über die Gefühlsstrukturen und Machtverhältnisse bestimmter historischer Perioden.

Räume und Landschaften sind von großer Bedeutung für Trauer, Gedenken und Erinnerung. Der Begriff „Raum“ wird hier verstanden als synoptische Verknüpfung einzelner Orte im Bewusstsein. „Landschaft“ kann im Anschluss daran mit Karin Wendt beschrieben werden als kulturell geprägter Raum, der unter dem Interesse einer besonderen Formation, Gestaltung oder Organisation reflektiert wird. [6] Die Geschichte der Menschen ist in Raum und Landschaft in mehreren miteinander verwobenen Schichten eingeschrieben, sie kann gleichsam als Palimpsest gelesen werden.

Dies gilt auch für die Begräbnisplätze. Friedhofshistorisch lässt sich für die Epoche der bürgerlichen Industriemoderne, also die Zeit vom späten 19. bis zum späten 20. Jahrhundert, eine stetig zunehmende Funktionalisierung, Technisierung und Serialisierung der Bestattung konstatieren. Diese Tendenzen fanden ihren Beginn in der Einführung der modernen, technischen Feuerbestattung und dem Bau von Krematorien seit dem späten 19. Jahrhundert sowie in den reglementierenden Tendenzen der Friedhofs- und Grabmalreform seit dem frühen 20. Jahrhundert. [7] Sie mündeten letztlich in die zunächst miniaturisierte, schließlich zeichen- und namenlose Beisetzung von Toten auf den klassischen Friedhöfen. Dies zunehmend überlagernd, spielt seit rund 20 Jahren, also in der Ära der postindustriellen Moderne, die bewusst inszenierte Individualisierung der Bestattungs- und Erinnerungskultur eine immer bedeutendere Rolle. Dies gilt beispielhaft für die Ausdehnung der Bestattungs- und Erinnerungskultur in den öffentlichen Raum beziehungsweise die freie (Natur)-Landschaft ebenso wie die tendenzielle Aufgabe der abgegrenzten Einzelgrabstätte. Beide Entwicklungen sollen im Folgenden näher betrachtet werden.



Quellen

[2] Friedhof – Adé? Die Bestattungskultur des 21. Jh., hg. von O. Roland, Mannheim 2007.

[3] C. Y. Robertson-von Trotha (Hg.), Tod und Sterben in der Gegenwartsgesellschaft. Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung, Baden-Baden 2008; Leben mit den Toten. Manifestationen gegenwärtiger Bestattungskultur. Hg. Kunstamt/Heimatmuseum Reinickendorf, Frankfurt/Main u.a. 2008; Th. Klie. (Hg.), Performanzen des Todes.
Neue Bestattungskultur und kirchliche Wahrnehmung, Stuttgart 2008; R. Sörries: Alternative Bestattungen. Formen und Folgen. Ein Wegweiser, Frankfurt/M. 2008; J. Schäfer: Tod und Trauerrituale in der modernen Gesellschaft. Perspektiven einer alternativen Trauerkultur, Stuttgart 2003; N. Fischer, Inszenierte Gedächtnislandschaften: Perspektiven neuer Bestattungs- und Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert, Online-Publikation:
http://www.aeternitas.de/inhalt/forschung;
http://www.aeternitas.de/inhalt/forschung/fischer/quellen/studie.pdf

[4] Neuere Übersichten zur Geschichte der Friedhöfe: N. Fischer/M. Herzog (Hg.), Nekropolis. Der Friedhof als Ort der Toten und der Lebenden, Stuttgart 2005; Raum für Tote. Die Geschichte der Friedhöfe von den Gräberstraßen der Römerzeit bis zur anonymen Bestattung. Hg.: Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal/Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur Kassel, Braunschweig 2003.

[5] P. Valéry, Cahiers/Hefte. Band 3, Frankfurt/M. 1989, 414.

[6] K. Wendt, Worin wir leben – Landschaften. In: Tà katoptrizómena. Das Magazin für Kunst, Kultur, Theologie, Ästhetik 62 (2009); Internet-Magazin, Link zum Beitrag:
http://www.theomag.de/62/kw64.htm.

[7] N. Fischer, Die Technisierung des Todes. Feuerbestattung – Krematorium – Aschenbeisetzung, in: Raum für Tote (wie Anm. 4), 145 – 162; ders., Zwischen Kulturkritik und Funktionalität: Die Friedhofsreform und ihr gesellschaftlicher Kontext in Deutschland 1900 – 1930, in: Vom Reichsausschuss zur Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal, Kassel 2002, 9 – 22.