Landschaftsgeschichte: Region, Natur und Kultur


4. Fallstudie III: Stadtregion

Bei der dritten und letzten Fallstudie geht es um den räumlichen Wandel im großstädtischen Umland am Beispiel des Großraumes Hamburg. Schrittweise sind hier die klassischen Stadt-Land-Gegensätze aufgelöst worden. Im Ergebnis ist ein raumplanerisch gesteuertes Patchwork unterschiedlicher Funktionsflächen entstanden, das durch starke räumliche Ausdifferenzierung gekennzeichnet ist: Wohngebiete, Gewerbegebiete, Verkehr, Naherholung, Natur und Landschaft. Die traditionelle Stadt alten Typs – etwa Mittelstädte wie Bad Oldesloe (Kreis Stormarn) – wird ebenso überformt wie das klassische Dorf.

Bevor wir uns den weiteren Ergebnissen dieses Prozesses für die Landschaftsentwicklung zuwenden, sei vorab sei die allgemeine Entwicklung skizziert – insbesondere der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden rasche Strukturwandel mit seiner gewerblich-industriellen und bevölkerungsmäßigen Expansion. [16]
Die gewerblich-industrielle Entwicklung beruhte auf einer in den 1950er Jahren einsetzenden Welle von Standortverlagerungen Hamburger Betriebe ins Umland. Sie verdrängten die dort zuvor dominanten landwirtschaftlich-handwerklichen Produktionsformen.

Wie aus dem 1965 präsentierten ersten Raumordnungsbericht der schleswig-holsteinischen Landesregierung hervorging, verzeichneten Umlandkreise wie Pinneberg und Stormarn im landesweiten Vergleich eine stark überproportional steigende Industrialisierungstendenz. [17] Im Kreis Stormarn verfünffachte sich der Industriebesatz zwischen 1950 und 1970, also die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe je 1000 Einwohner. Diese gewerblich-industrielle Verdichtung erfasste nach und nach große Teile des Umlandes – schwerpunktmäßig zuerst das nördliche Umland, später auch Zonen südlich der Elbe (exemplarisch verwiesen sei auf die Industrialisierung der Niederelbe im Raum Stade seit den späten 1960er Jahren). [18]

Zu dieser Expansion gehörte zum zweiten ein rasanter Bevölkerungsanstieg − dazu trug neben den bereits erwähnten Flüchtlingen und Vertriebenen seit den 1960er-Jahren auch die quantitativ bedeutende Abwanderung Hamburger ins Umland bei. In einigen der Umlandgemeinden verlief die Entwicklung besonders dramatisch. So vergrößerte sich das an der Grenze zwischen den Kreisen Harburg und Stade gelegene Neu-Wulmstorf von 1939=565 Einwohner auf 1961=4255 Einwohner – also fast die achtfache Zahl. Ebenso bemerkenswert ist die Entwicklung von Buchholz (Landkreis Harburg), das seine Bevölkerungszahl zwischen 1939 und 1968 mehr als vervierfachen konnte und bereits 1958 Stadtrecht erhielt. [19]

Dieser Modernisierungsprozess veränderte in weiten Teilen die Landschaft im Hamburger Umland. Dabei kann einerseits von einer Verstädterung einst ländlicher Orte, andererseits von einer patchworkartigen Aufteilung der einzelnen Funktionsflächen gesprochen werden. Die Verstädterung äußerte sich in mehrgeschossigem Wohnungsbau und „City“-Bildung sowie im Ausbau der sozialen und technischen Infrastruktur, vor allem der Verkehrsnetze mit Schnellstraßen und Autobahnen. Insgesamt zog dies eine räumliche Zonierung und Uniformierung nach sich – es entstanden funktional aufgeteilte Räume, deren Erscheinungsbild sich überall anglich. Die Komplexität der Landschaft wurde reduziert – und die in den 1960er Jahren einsetzende landwirtschaftliche Flurbereinigung tat bei den verbliebenen Agrarflächen das Ihre, um die Uniformierung des Umlandes voranzutreiben.

Die eigene Umgebung wird aber nicht nur als Wohnsiedlung, Gewerbegebiet oder Verkehrsweg wahrgenommen, sondern ganz wesentlich auch als Umwelt und Natur. Gerade in stadtregionalen Räumen haben Natur und Landschaft – wie im Beispiel Heiligenhafen gleichsam kompensatorisch – in den letzten Jahrzehnten eine enorme Bedeutung gewonnen. Ihre Wahrnehmung speist sich in der Regel aus dem oben erwähnten Verständnis von „schöner Landschaft“ beziehungsweise „unzerstörter“ Natur, ihre Funktion wird jedoch auf die eines Patchwork-Elementes im durchplanten Raum reduziert.

Gleichwohl erhielten – im Rahmen der räumlichen Ausdifferenzierung – Natur und Landschaft eine besondere Rolle zugewiesen. Sie wurden zu Gegenpolen der gewerblich-industriellen Verdichtung und Verstädterung sowie der zunehmend von Umweltproblemen belasteten Räume im Hamburger Umland. Damit zählen auch die Naturschutzgebiete und Naturdenkmale, die Biotope und renaturierten Teichlandschaften zu der erwähnten „funktionalen“ Topographie. Es sind kompensatorische Räume zur Verstädterung, in deren Ergebnis eine „modellierte Natur“ entstanden ist, die selbst in ihrer scheinbar unberührten Form – dem Naturschutzgebiet – noch auf planerische Funktionalität verweist.

Wie schon am Beispiel des Graswarder gezeigt wurde, passt sich auch hier die historisierte, denkmalgepflegte Architektur ein: Straßen mit historischem Pflaster wurden erneuert, Anger neu gestaltet, alte Bauernhöfe und Mühlen saniert, historische Bauten unter Denkmalschutz gestellt. Diese Historisierung ländlicher Ensembles zeigte sich als Gegenbewegung zu jener „Nachkriegsmoderne“, die das Erscheinungsbild vieler Stormarner Kommunen in in den 1960er und 1970er Jahre geprägt hatte, als man – wie im ehemaligen Gutsdorf Glinde – bei der Gestaltung der Ortskerne zur vielgeschossigen, in ihrer Standardisierung austauschbar wirkenden Neubebauung im Sinne einer „City-Bildung“ neigte. Stattdessen ging man im späten 20. Jahrhundert dazu über, historische Architektur (zum Beispiel Reetdachgebäude oder Mühlen) zu restaurieren und teils in städtebauliche Ensembles zu integrieren, aber auch neue Bauten in historisierendem Stil zu errichten.

Die planerisch-funktionale Neugestaltung der Landschaft im großstädtischen Umland haben immer wieder Skepsis und Kritik hervorgerufen und wurden als „Verschleifungsstrategie“ zu Lasten alter, identitätsstiftender Landschaften und Lebenswelten kritisiert. [20] Nach wie vor gibt es eine nur begrenzteAkzeptanz der neuartigen Stadtregionen, weil sie nicht den klassischen Wahrnehmungsschemata entsprechen: „Die diffusen Räume unserer Ballungsgebiete sind für die meisten Menschen zeichenlos. Dem ungestalteten Raum wurden keine expliziten Zeichen für seine Lesbarkeit gegeben, und die Nutzung dieser Räume ist auf den ersten Blick so bezugslos zu dem Ort, an dem sie stattfindet (Pendlertum, Schlafstädte, Baumärkte), dass auch von dieser Seite keine den Ort unverwechselbar kennzeichnenden Zeichen entstehen. Wenn überhaupt Zeichen gesehen werden, dann sind sie also austauschbar – das heißt, der Ort bleibt anonym.“ [21] Stattdessen hat die funktionale Neugliederung des Raumes die Plattform für jene Patchwork-Elemente geschaffen, die die postmoderne Landschaft der Regionen zwischen Stadt und Land charakterisieren.



nach oben




Quellen

[16]
Die folgenden Passagen beruhen auf (mit archivalischen Nachweisen) Norbert Fischer: Vom Hamburger Umland zur Metropolregion – Stormarns Geschichte seit1980. Hamburg 2008; ders.: Die modellierte Region – Stormarn und das Hamburger Umland 1945-1980. Neumünster 2000.

[17]
Landesplanung in Schleswig-Holstein, Heft 5: Erster Raumordnungsbericht der Landesregierung Schleswig-Holstein und die einführende Rede des Ministerpräsidenten Dr. Helmut Lemke im Landtag am 25. Oktober 1965. Kiel 1965, S. 38.

[18]
Dieter Brosius u.a.: Heimatchronik des Kreises Harburg. Köln 1977, S.164.

[19]
Zur Entwicklung im Landkreis Harburg zusammenfassend Norbert Fischer: Der Landkreis Harburg 1945-1970. Probleme regionaler Modernisierung im Hamburger Umland; in: Jahrbuch für den Landkreis Harburg 2000, S. 25-40; zu den Daten: Regionalstatistische Daten für das Hamburger Umland 1961 bis 1968. Hrsg. vom Statistischen Landesamt der Freien und Hansestadt Hamburg (=Statistik des hamburgischen Staates, Heft 93), S. 26.

[20]
Leserbrief Joachim Grube, Deutsches Architektenblatt 38 (2006), Heft 11, S. 4. – Ich danke Burkhard von Hennigs für den Hinweis auf diese Passage.

[21]
Boris Sieverts: Stadt als Wildnis. In: Dieter D. Genske/Susanne Hauser (Hrsg.): Brache als Chance. Ein transdisziplinärer Dialog über verbrauchte Flächen, Berlin 2003, S. 207.



nach oben