2. 1. Denkmal-Landschaften: Das Beispiel Nordseeküste

Denkmäler und Gedenkstätten - also Orte, wo wir erinnern - sind nicht zuletzt aus aktuellen politischen Debatten bekannt. Gerade das 20. Jahrhundert hat angesichts millionenfachen Kriegstodes und zuvor unvorstellbarer Verbrechen an der Menschlichkeit international ganz verschiedene "Orte des Gedächtnisses" hervorgebracht - man denke an die Kriegsopferanlagen mit ihren scheinbar endlosen Gräberreihen und vor allem an die komplexen Formen des Holocaust-Gedenkens.

Diese Denkmäler und Gedenkanlagen sind vielfach beschrieben und untersucht worden. Ich möchte stattdessen ein weniger bekanntes, aber sehr anschauliches Beispiel aus meinen laufenden Forschungen vorstellen: Denk- und Erinnerungsmäler von der Nordseeküste. Zahlreich und vielgestaltig, erinnern sie an den Tod im Meer. Im Einzelfall bilden sie klassische Orte des Gedächtnis - und es bedarf wenig Imaginationskraft, um sie zusammen genommen als Elemente einer spezifisch maritimen Gedächtnislandschaft zu betrachten. Es ist eine Gedächtnislandschaft, die die Erfahrung des bedrohlichen Meeres in eine besondere Gestalt gießt. "Wo immer wir können, müssen wir den Dingen eine Gestalt geben, denn Gestalt bedeutet Sinn", schrieb der Schriftsteller Yann Martel in seinem "Schiffbruch"-Roman. An der Küste ist es die Gestalt der Gedenk- und Erinnerungsmäler. Sie zeugen von der Arbeit an einer Vergangenheit, die in besonderem Maß von Trauer und Erinnerung geprägt ist.

Diese maritimen Memorials sind keine klassischen bürgerlichen Denkmäler im Stile heroischer Geschichtsdeutung, wie die Nationaldenkmäler des 19. Jahrhunderts und die Kriegerdenkmäler der Weimarer Republik. Die Arbeit an der Vergangenheit wird an der Küste nicht im Sinne ideologischer Heilserwartung betrieben. Vielmehr ist sie zur "Trauer" geworden - "Trauer" verstanden als Verarbeitung von Verlusterfahrungen: den Verlust des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit, im übertragenen Sinn die Trauer über den Verlust eigener Handlungsautonomie in Folge von Schiffbrüchen und Sturmflutkatastrophen.

So wird also "Trauer" hier betrachtet als eine Form des Umgangs mit Vergangenheit, die "selber historisch Gestalt" annimmt - wie es Jörn Rüsen/Burkhard Liebsch in ihrem programmatischen Sammelband "Trauer und Geschichte" ausdrückten. "Spezifisch historisch", so schreibt der Historiker Jörn Rüsen, "wird das Trauern dann, wenn es sich auf konkrete Vorgänge der Vergangenheit bezieht, die dem unmittelbaren Lebenszusammenhang der Gegenwart schon entrückt sind, ... zugleich aber über den Zeitabstand hinaus (besser: durch ihn hindurch) noch bedeutungsvoll und sinnträchtig geblieben sind oder erneut [sinnträchtig] werden können." Mit anderen Worten: "Trauer" ist ebenso eine Form der Arbeit an der Vergangenheit, wie sie etwa die Geschichtsschreibung, die Chronik oder auch Kunst und Literatur verkörpern können.

Die Küste ist als Extrem-Landschaft prädestiniert für eine solche, von Trauer geprägte Arbeit an der Vergangenheit, weil der Schock der Katastrophen - Sturmfluten, Überschwemmungen, Boots- und Schiffsunglücke - über Jahrhunderte erfahren und tradiert worden ist. Unter diesen besonderen Umständen konnte "Trauer" an der Küste zu einem Schlüsselbegriff des Umgangs mit der Vergangenheit werden. Diese Trauer ist zur küstenspezifischen "Vergegenwärtigung" der Vergangenheit geworden. Sie fand in den Denkmälern und Gedenkstätten zu ihrer materialisierten, öffentlichen Gestalt.

Blicken wir nun auf einige Beispiele im Bild. Die Memorials sind hier in drei Kategorien aufgeteilt: 1. allgemeine Memorials für die "Auf See Gebliebenen", 2. Einzelne Schiffskatastrophen, 3. Denkmäler und Gedenkstätten für unbekannte Strandleichen.

Beispiele im Bild

Die beschriebenen Memorials werden hier als Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses der "Gedächtnisbildung" analysiert, der seine Ausdrucksformen in jeder historischen Epoche neu "erfindet". Damit Trauer als historischer Faktor wirksam werden kann, müssen die zu Grunde liegenden Erfahrungen des "nassen Todes" erinnert und tradiert worden sein. Hier gilt, was Manfred Jakubowski-Tiessen in seinem Aufsatz über "Mythos und Erinnerung" schrieb, dass nämlich " ... die Erinnerungen an Katastrophen ... dann Teil einer dauerhaft wirkenden kollektiven Gedächtniskultur werden können, wenn mit der Erinnerungsleistung im Kontext ihrer jeweiligen Zeit ein aktives Deutungsangebot im Sinne einer Handlungslegitimation oder auch einer Selbstvergewisserung einhergeht ..." Damit steht der jeweilige soziale und kulturelle Kontext im Mittelpunkt der Gedächtnisbildung. Es ist kein "kulturelles" oder "kollektives" Gedächtnis, das irgendeinen Grad an historischer "Objektivität" beansprucht.

Die im Bild gezeigten Denkmäler entstammten der Zeit nach 1850 - also erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tauchten sie an der Küste auf. Wie ist diese historische Verortung zu erklären- Bekanntlich spielte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Historisierung von Kultur und Gesellschaft in Deutschland eine wichtige Rolle - ja, es entfaltete sich ein regelrechter Gedächtniskult. Monumentale Denkmäler stellten in den Städten eine allgegenwärtige Form historischer Repräsentation dar, zeugten von dieser umfassenden Historisierung und dienten nationalstaatlicher Selbstvergewisserung wie auch gesellschaftlichen Prestigedenkens. Die Küste kam mit diesem "Gedächtniskult", mit diesen Mustern bürgerlich-städtischer Kultur über das Aufblühen der Schifffahrt und nicht zuletzt des Seebäderwesens im 19. Jahrhundert in Kontakt. Diese Ausgangslage öffnete die Küste für den bürgerlichen "Gedächtniskult", gab ihm vor Ort aber eine eigene, in der eigenen Vergangenheit verankerten Gestalt - öffentliche Gedächtnislandschaften, "wo erinnert wird".

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