2. Sanfter Abschied: Das neue Bild vom Tod

Der Schauplatz solcher voyeuristischen Abenteuer war nicht zufällig gewählt. Städtische Friedhöfe hatten sich mit ihren Grabstätten im bürgerlichen Zeitalter zu gesellschaftlich repräsentativen Orten entwickelt. Garten-, später auch landschaftsästhetische Leitbilder trugen im 19. Jahrhundert zur Verschönerung vieler städtischer Begräbnisplätze bei. Immer wieder zur Promenade aufgesucht, boten sie eine stilvolle Kulisse, in die die Grabdenkmäler regelrecht hineinkomponiert wurden. [5]

Diese Grabdenkmäler visualisierten den bürgerlichen Tod. Es war ein sublimiertes Bild vom Tod, das sich seit dem späten 18. Jahrhundert ikonographisch entfaltet und die naturalistischen Skelett-, Schädel- und Knochendarstellungen der frühen Neuzeit abgelöst hatte – sanft und emotionsgetönt. Katalysatorisch wirkte Gotthold Ephraim Lessings Schrift „Wie die Alten den Tod gebildet“ (1769), in der er sich gegen die barocke, den Tod als Schrecken darstellende Grabmalkunst wandte. Stattdessen propagierte er eine in den Kunstwerken der Antike entdeckte Auffassung, die den Tod als „Zwillingsbruder des Schlafes“, als „schönen Tod“ sah. [6] Goethe, Herder und andere Protagonisten des gebildeten Bürgertums griffen Lessings Leitbild auf, und in der Folge wurde die an der Antike orientierte Formensprache zum Vehikel einer neuen, klassizistischen Grabmalkunst. Der sanfte Tod zeigte sich in Symbolen wie Fackeln, Mohnkapseln oder Blumen, die den Tod als verlöschendes Leben oder allmähliches Entschlummern darstellten. Im bildhaft dargestellten Abschied der Toten von den Lebenden fand die Trauer auf den Grabmälern einen ikonographischen Ausdruck. Trauerfiguren, die in der Grabmalkunst des Barock keine bedeutende Rolle gespielt hatten, wurden nun stark aufgewertet – der Übergang ins Jenseits durch harmonisch geformte, entspannt, häufig schlafend wirkende Figuren verkörpert. [7]

Dies öffnete zugleich den Weg für die sepulkrale Synthese von Weiblichkeit und Trauer. Als Pionier wirkte der italienische Bildhauer Antonio Canova mit seinem Grabmal für Papst Clemens XIV. (1787) – einem der frühen und bedeutendsten Beispiele klassizistischer Grabmalkunst. Die zu diesem Werk gehörenden weiblichen Skulpturen zeigen jenes empfindsame Leiden, das sich als sepulkrales Frauenbild über ganz Europa verbreiten sollte. [8] Einige Jahre später schuf der Dresdner Bildhauer Franz Pettrich, der während seiner italienischen Studienreise auch in Canovas römischem Atelier zu Gast war, ein Grabmal für seine plötzlich verstorbene Frau Caroline Catharina (1803). Das sarkophagartige Grabmal trug die sanft ruhend, ja schlafend wirkende Gestalt der Toten. [9] Auch auf den Friedhöfen der Neuen Welt fanden derartige Skulpturen Verbreitung – neben dem Ausdruck empfindsamen Leides verwiesen sie zudem auf die Funktion des Aufopferns, wie Joy S. Kasson vermerkte. [10]

In der Ausgestaltung dieser sepulkralen Figuren schlug sich die geschlechtsspezifische Aufgabenteilung nieder – die psychische Leistung der Trauerarbeit wurde den Frauen zugesprochen (worauf noch ausführlicher zurück zu kommen sein wird). Die Kunsthistorikerin Ellen Spickernagel schrieb über die geschlechtsspezifischen Implikationen klassizistischer Grabmalkunst: Die Frau „ ... mußte ihre Affekte, den ungebändigten und formsprengenden Schmerz, unter dem Diktat der Schönheit und Anmut bezwingen, um als Trägerin männlicher Hoffnung und Freiheitsvorstellungen fungieren und zur Harmonisierung der bürgerlichen Welt beitragen zu können.“ [11]



Quellen

[5] Zur Sozialgeschichte der Friedhöfe und Grabstätten im bürgerlichen Zeitalter siehe Norbert Fischer, Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 1996, S. 8 – 74; Barbara Happe, Die Entwicklung der deutschen Friedhöfe von der Reformation bis 1870, Tübingen 1991. Zur gesellschaftlichen Bedeutung des „bürgerlichen Todes“ im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland siehe Norbert Fischer, Geschichte des Todes in der Neuzeit, Erfurt 2001, S. 27 – 50.

[6] Gotthold Ephraim Lessing, Wie die Alten den Tod gebildet, in: Lessings Werke. Vollständige Ausgabe in 25 Teilen, hrsg. von Julius Petersen und Waldemar von Olshausen, Berlin u.a. 1925 (Schriften zur antiken Kunstgeschichte; 17), S. 309 – 357. Siehe dazu Barbara Naumann, „Wie die Alten den Tod gebildet“. Lessings produktives Mißverständnis des Todesgenien im Streit um das Bild des heiteren Todes, in: „O ewich is so lanck“. Die Historischen Friedhöfe in Berlin-Kreuzberg, hrsg. von Christoph Fischer und Renate Schein, Berlin 1987, S. 205 – 214.

[7] Paul Arthur Memmesheimer, Das klassizistische Grabmal. Eine Typologie, Diss. Bonn 1969.

[8] Ellen Spickernagel, „Poetische Freiheit“ und „prosaische Beschränkung“. Zur geschlechtsspezifischen Form von Grabmal und Denkmal im Klassizismus, in: Kritische Berichte 4 (1989), S. 60 – 76, hier S. 66 – 67.

[9] Hans Joachim Kluge, Caspar David Friedrich. Entwürfe für Grabmäler und Denkmäler, Berlin 1993, S. 55 – 56 (Abbildungen ebd., S. 56 und S. 57).

[10] Joy S. Kasson, Marble Queens and Captives. Women in Nineteenth-Century American Sculpture, New Haven/London 1990, dort Kapitel V: Death and Domesticity, S. 101 – 140.

[11] Spickernagel (wie Anm. 8), S. 73 – 74.