2. „ ... faszt den Körper als eine leibliche Hülle“:
Zur Geschichte der Einäscherung in der Neuzeit

Feuerbestattung, Krematorien und die mit ihnen verbundene Transformation des menschlichen Körpers in Asche sind die Ausdrucksformen des industriell-technisierten Umgangs mit dem Tod. Sie haben die Bestattung beschleunigt und damit effizienter gestaltet. Damit sind sie Ausdruck eines zunehmend materialistischen Denkens im Umgang mit dem toten Körper, den das Grimmsche „Deutsche Wörterbuch“ bereits Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Stichwort „Leichnam“ wie folgt verzeichnete: „ ... faszt den Körper als eine leibliche Hülle im Gegensatz zu der darin weilenden seele“.

Allerdings ist die Feuerbestattung an sich keine Erfindung der Moderne. Historisch gilt sie zusammen mit der Erdbestattung als wichtigste Bestattungsart und war in vorchristlicher Zeit in Europa ebenso üblich wie sie zur Tradition verschiedener außereuropäischer Kulturen gehört. Mit Ausbreitung des Christentums wurde die Leichenverbrennung verdrängt und nur das Begraben des Leichnams anerkannt. Einäscherungen wurden als „heidnisch“ betrachtet und entsprechend verfolgt und bestraft. Im späten 18. Jahrhundert gab es im Kontext von Aufklärung, Reform und Revolution in Frankreich und Deutschland sowohl utopische, nie realisierte Ideen zur Wiedereinführung der Leichenverbrennung als auch Einzelverbrennungen mit teils demonstrativem Charakter. Im Jahr 1778 schlug der Jenaer Philosophieprofessor Justus Christian Hennings im Kontext zunehmender hygienischer Probleme auf städtischen Friedhöfen die Einäscherung als rationale Lösung vor. Für die Wiedereinführung der Feuerbestattung plädierte 1792 auch der in Hamburg wirkende Kaufmann, Pädagoge und Sozialutopist Franz Heinrich Ziegenhagen (Messerer 1963:173; Kopitzsch 1990:702). Einige Jahrzehnte später, im Jahr 1849, hielt der Sprach- und Altertumsforscher Jacob Grimm einen Vortrag vor der Berliner Akademie der Wissenschaften, in dem er die ästhetischen Vorzüge der Feuerbestattung unterstrich (Grimm 1865). Mitte der 1850er Jahre entwarf der Botaniker, Arzt und Medizinschriftsteller Hermann Richter, Vorkämpfer für eine Medizinalreform, einen der ersten, allerdings noch nicht praxistauglichen Verbrennungsapparate (Brockhaus 1898: 853).

Aber erst jene in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftretenden infrastrukturellen und hygienischen Probleme in den wachsenden Städten, die mit Bevölkerungswachstum und Industrialisierung zusammenhingen, verhalfen der modernen Feuerbestattung zum Durchbruch. Die Einäscherung wurde nun als hygienische und kostengünstige Lösung der Raumprobleme auf städtischen Friedhöfen propagiert. Letztlich war es ein in sich verwobenes Faktorenbündel aus städtischem Bevölkerungswachstum, Raumnot auf den Friedhöfen und wachsender Sensibilität für hygienische Probleme, das im späten 19. Jahrhundert den Bau der ersten Krematorien ermöglichte (denn eine Einäscherung in offenem Feuer kam nicht in Frage). Auf allgemeine Weise begünstigend wirkten technischer Fortschritt und gesellschaftliche Säkularisierung, also der wachsende Bedeutungsverlust der Kirchen. Hinzu kamen nicht zuletzt eine berufsspezifische Interessenpolitik, etwa von Hygienikern, Medizinern und Ingenieuren, die die Feuerbestattung unterstützte. Vor diesem Hintergrund entfaltete sich in Deutschland seit den 1870er Jahren eine in Vereinen organisierte Feuerbestattungsbewegung, die sich für den Bau von Krematorien engagierte.

Auch international breitete sich die Idee der modernen Feuerbestattung rasch aus. Sie wurde zu einem Reformprojekt sich als fortschrittlich verstehender Industriegesellschaften. Im Jahr 1874 publizierte der britischen Mediziner Henry Thompson unter dem Titel „Cremation: The treatment of the body after Death“ eine aufsehenerregende Schrift, die die hygienischen Vorzügen der Feuerbestattung akzentuierte und auch in den USA rezipiert wurde (Prothero 2001: 15 ff.). Im gleichen Jahr gründete Thompson auch die „Cremation Society of England“. Der Beginn der US- Feuerbestattungsbewegung lässt sich mit der Gründung der „New York Cremation Society“ im Jahr 1874 datieren (Prothero: 11 – 12).

Zum Hauptgegner der Krematisten wurden die christlichen Kirchen, vor allem die katholische. Die Konfrontation zwischen Kirchen und Feuerbestattungsanhängern wurde zum gesellschaftlichen Machtkampf. Nicht zu Unrecht gingen die Kirchen davon aus, daß mit der Feuerbestattung eine mechanistisch-materialistische Vorstellung vom Körper verbunden war, derzufolge er als bloße Zusammensetzung einzelner Teile galt. Darüber hinaus brach, unabhängig von allen Dogmenfragen, die Feuerbestattung aus kirchlicher Sicht schon deswegen mit der christlichen Tradition, weil diese nur das Erdgrab kannte und liturgisch auch voraussetzte (Sartorius 1886).

Während einzelne protestantische Landeskirchen ihre Haltung allmählich liberalisierten (Heike-Gmelin 2013), erließ die katholische Kirche 1886 ein Verbot der Feuerbestattung, das bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil bestehen blieb und erst 1963 aufgehoben wurde. Das Heilige Offizium untersagte die Teilnahme von Kirchendienern an einer Feuerbestattung ebenso wie das Spenden von Sterbesakramenten für eine Person, die eine Feuerbestattung wünschte oder auch nur Mitglied in einem Feuerbestattungsverein war (Demmel 1928: 8 – 9). Die Verbindung von Totenbestattung und Technik galt vielen als pietätlos und auch unästhetisch: „... so ist von Poesie doch absolut kein Stäubchen zu finden in der Verbrennungsprocedur, welcher die Leichen in den modernen Oefen unterworfen werden ...,“ hieß es polemisch (Sartorius 1886: 32).

Voraussetzung der Einäscherung war der Bau von Krematorien mit geeigneten Verbrennungsapparaten. Bei dem zunächst in Italien realisierten Prinzip des Flammofens verbrannte der Leichnam in der Flamme eines entzündeten Gasgemisches, was von vielen als pietätlos empfunden wurde. In Deutschland wurde in Friedrich Siemens’ Dresdner Glashütte ein Heißluftofen auf Basis des so genannten Regenerativ-Verfahrens entwickelt. Dabei fand die Einäscherung in hocherhitzter Luft statt, Flammen gelangten nicht in den Verbrennungsraum. Dieses Verfahren errang langfristig große Bedeutung für die Entwicklung der Verbrennungstechnologie im Deutschen Reich (Winter 2001; Schumacher 1939: 19 – 21; für die Schweiz: Zemp 2012).

Gleichwohl setzte sich angesichts der erwähnten Widerstände der – zunächst von den Feuerbestattungsvereinen und ihren Mitgliedern („Krematisten“) betriebene –Krematoriumsbau und die Feuerbestattung nur langsam durch. Die ersten deutschen Krematorien entstanden in Gotha (1878), Heidelberg (1891) und Hamburg (1982). Bis zum Jahr 1910 stieg die Zahl der Krematorien in Deutschland auf über 20 Bauten (Winter 2001: 39 – 45; Heldwein 1931: 47–48). Sie bildeten im übrigen eine völlig neue Bauaufgabe. Grundsätzlich standen die Architekten vor der Aufgabe, eine neue Technik, nämlich den Einäscherungsapparat, mit den herrschenden Formen bürgerlicher Pietät in Einklang zu bringen. Der Raum für die Trauerfeiern sollte dabei von der Technik möglichst wenig zeigen – die Feuerbestattungsbewegung befürchtete sicher nicht zu Unrecht den Vorwurf, Tod und Trauer mit einer weithin als „seelenlos“ betrachteten industriellen Technik in Verbindung zu bringen. Die meisten frühen Krematorien waren architektonisch vom Stilpluralismus des Historismus geprägt, erst im frühen 20. Jahrhundert entstanden moderne Bauwerke, etwa das von Peter Behrens entworfene Krematorium auf dem Remberti-Friedhof in Hagen/Westfalen (1909) und Fritz Schumachers 1911 fertiggestellte Krematorium mit angeschlossener Aschenbeisetzungsanlage in Dresden-Tolkewitz (Winter 2001: 87 ff.).

In ihrer Frühzeit blieb die Feuerbestattung Angelegenheit einer extrem schmalen Minderheit: Zwischen 1878 und 1898 ließen sich im Deutschen Reich nur 3 110 Personen einäschern, der Anteil an den Gesamtbestattungen betrug nur etwa 0,02% (Kaiser: 62). Für die weitere Geschichte der Feuerbestattung sollte es von großer Bedeutung sein, dass sie als preiswerte und „egalitäre“ Bestattungsart von den immer mächtiger werdenden Arbeiterorganisationen unterstützt wurde – auch durch eigene Feuerbestattungskassen – und somit in breiten Arbeiterkreisen Fuß fassen konnte. Dies geschah im wesentlichen nach dem Ersten Weltkrieg. Nun erwies sich die Feuerbestattung als ein entscheidender Baustein der Rationalisierung im kommunalen Bestattungswesen. Immer mehr Krematorien waren inzwischen in kommunale Hände übergegangen bzw. von den Städten neu errichtet worden. Durch gezielte Gebührensenkungen gelang es den Kommunen, die Einäscherungszahlen deutlich zu steigern und die Krematorien besser auszulasten. Anfang der 1930er Jahre gab es in Deutschland bereits über 100 Krematorien.

Das Krematorium vereint erstmals wichtige Etappen der Bestattung funktional in einem einzigen Gebäude: Es ist Verwahrort für Leichen, Ort der Trauerfeier und Ort der Einäscherung – einige Krematorien sind mit ihren Kolumbarien (Urnennischen) auch Beisetzungsort. Das Krematorium ist zum architektonischen Zeugnis eines pragmatischen Umgangs mit dem Tod geworden, weil es die Bestattung durch einen möglichst reibungslosen, ineinandergreifenden Ablauf funktionalisierte und effizient gestaltete.

Darüber hinaus veränderte die Feuerbestattung das Erscheinungsbild der Friedhöfe im allgemeinen und die Grabgestaltung im besonderen. Da Aschengräber erheblich weniger Raum als Erdgräber benötigen, wurden sie bereits im Zuge der im frühen 20. Jahrhundert einsetzenden so genannten Friedhofs- und Grabmalreform bevorzugt. Sie leisteten dem Trend zur Miniaturisierung der Grabstätten Vorschub. Die Aschengräber ermöglichten jene strenge Homogenität, die hin zur Standardisierung und Serialisierung der Grabstätten führte. Vorläufig resümierend, hatte die Einführung der modernen Feuerbestattung bereits bis zum frühen 20. Jahrhundert eine grundlegende Reform der Beisetzungskultur nach sich gezogen. Die der Feuerbestattung eigene Funktionalität ließ sich perfekt in die reißbrettartige, standardisierte Ästhetik des „neuen Friedhofs“ des frühen 20. Jahrhunderts einpassen.

Nur wenige Jahre nach ihrer Blütezeit als gesellschaftspolitisches Fortschritts- und Reformprojekt wurden die Krematorien und Einäscherungsöfen zum Ort des Massenmordes und der Massenvernichtung – und der Auslöschung jedweder individueller Erinnerungskultur. Unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur offenbarte sich auf geradezu zynische Weise die Ambivalenz industrieller, sich als „fortschrittlich“ verstehender Technik. Auch dies gehört zur Geschichte der Feuerbestattung und ist an anderer Stelle ausführlich analysiert worden (Schüler 2011).