Zur Aktualität und Geschichte des verborgenen Todes

Prof. Dr. Norbert Fischer (Universität Hamburg)
erschienen in: Thomas Klie (Hrsg.): Performanzen des Todes. Neue Bestattungskultur und kirchliche Wahrnehmung. Stuttgart 2008, S. 44-55.

3. Zwischen Trauer und Technik: Der verborgene Tod

Noch einmal zurück in die Frühzeit der Kremation, ins späte 19. Jahrhundert: Auf die geschilderten, vor allem von Seiten der Kirchen kommenden Widerstände reagierten die „Krematisten“ von vornherein damit, den verfemten technischen Kern der neuen Bestattungsart, also den Einäscherungsapparat, der öffentlichen Wahrnehmung zu entziehen. Dies geschah durch die Verbannung ins Untergeschoss der Krematorien. Darüber hinaus wurde der technische Trakt durch das vielfältige Arsenal historistischer, paradoxerweise nicht selten christlich inspirierter Stilformen regelrecht umhüllt. Dies führte stellenweise zu skurrilen Mischungen aus moderner Technik und mittelalterlicher Architektur. Zugleich gab die Verbannung der Technik ins Untergeschoss der Einäscherung den Ruch des gesellschaftlich Tabuisierten, ja Unheimlichen. Diese Trennung von Trauer und Technik fand sich, wie gesagt, in mehr oder weniger modifizierter Gestalt auch in vielen späteren Krematoriumsbauten wieder. Gesellschaftlich wurde der technische Trakt des Krematoriums und insbesondere der Verbrennungsapparat damit zum „Arkanum“ – zu einem geheimen Ort, den man gern verdrängte.

Es gibt zahlreiche Beispiele, wie sehr die Krematoriumsarchitektur in der Kaiserreich-Zeit die gesellschaftlichen Irritationen im Umgang mit der neuen Bestattungsart – aber auch mit der Technik im Allgemeinen – widerspiegeln. So weist die Gestaltung der Krematorien Mainz (1903) und Heilbronn (1905) deutliche sakrale Elemente auf. Wie sehr man sich um ein traditionell feierliches Ambiente der Trauerhallen bemühte, dokumentiert eine zeitgenössische Schilderung aus dem Krematorium Karlsruhe (1903): „Dem Zweck entsprechend hat das Innere eine verhältnismäßig reiche Ausstattung erfahren, deren Mittelpunkt der reich getriebene und mit bunten Edelsteinen besetzte Kupfersarkophag bildet, unter dem während der Trauerfeier der Sarg ruht. Darüber schwebt die Decke als offener mittelalterlicher Dachstuhl mit reich gemalten Sparren-Zwischenfeldern, gleich einem hellblauen Himmel das Ganze überspannend. Den Mittelpunkt der in strengen romanischen Formen ausgeführten Wand- und Deckenmalerei bildet das große auf Putz aufgetragene Gemälde an der Kanzelwand …“

Als der Reformarchitekt und Hamburger Oberbaudirektor Fritz Schumacher in den 1920er Jahren mit der Aufgabe konfrontiert wurde, für seine Stadt ein neues, nunmehr zweites Krematorium zu errichten, wollte er es – statt weit vor den Toren auf dem Zentralfriedhof Ohlsdorf – in der Innenstadt bauen. Wie er in seinen Erinnerungen berichtete, gab es dagegen jedoch massive Widerstände: „Ich nahm als selbstverständlich an, daß man dieses Krematorium bequem erreichbar in inneren Stadtbezirken errichten würde, denn Feier und Handlung, die in ihm stattfinden, hatten ja, auch wenn man die Asche später de Erde anvertraute, keinerlei zwingende Verbindung mit dem weit entfernten und schwer erreichbaren Ohlsdorfer Friedhof, der die Erfüllung letzter Freundschaftspflicht zu einem unverhältnismäßigen und für viele unmöglichen Opfer an Zeit und Kraft macht. Aber ich konnte die denkbar geeignetsten Plätze vorschlagen, immer siegte die Opposition, die den Mahner an die Vergänglichkeit weit fortgeschoben haben wollte.“

Nur wenige Jahre später sollte der verborgene Tod im Krematorium dazu führen, dass sich dieses ambivalente Potential der Moderne – fortschrittliche Technik einerseits, gesellschaftliche Tabuisierung andererseits – in seiner inhumansten Form zeigte: In den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern dienten die Einäscherungsöfen der systematischen Massenvernichtung. Die Weiterentwicklung der Verbrennungstechnologie ermöglichte es der Lagerleitung, die Spuren ihrer millionenfachen Verbrechen fast vollständig zu verwischen. Die Einäscherungsöfen boten in den Konzentrations- und Vernichtungslagern die Lösung des Problems, eine große Zahl von Opfern fabrikmäßig und vor allem möglichst spurlos zu beseitigen. Dachau erhielt Ende 1939 ein Krematorium, Buchenwald Anfang 1940. Systematisch ausgebaut wurde die Vernichtungsmaschinerie in Auschwitz/Birkenau, das sich zum größten Lagerkomplex entwickelte. Die Erfurter Firma Topf, die zuvor an zivilen Anlagen beteiligt war, stellte das erste Krematorium im August 1940 fertig. In der Folge entwickelten ihre vor Ort tätigen Ingenieure für die SS-Lagerleitung neue Hochleistungsöfen mit Massenkapazitäten. Bei den 1943 in Betrieb genommenen vier neuen Krematorien waren in zynischem Ausdruck technischer Perfektion die Gaskammern gleich integriert.

Es war nicht zuletzt die seit den Anfängen der modernen Feuerbestattung bekannte gesellschaftliche Tabuisierung der Einäscherungsapparates, die diesen zum idealen Instrument der Spurenbeseitigung machte. Was an diesem Ort geschah, ließ sich eher als anderswo verheimlichen, weil die wenigsten ihn je bewusst betreten hatten. Die vorgängige Tabuisierung der Einäscherung passte sich perfekt in das Geheimhaltungssystem ein, unter dem die systematische Massenvernichtung vollzogen wurde.

Nach dem Ende der NS-Diktatur zeigte sich in den Konzentrations- und Vernichtungslagern das ganze Ausmaß des Schreckens. Es bedurfte jahrzehntelanger Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit, um den Holocaust in Deutschland in das kollektive Gedächtnis eingehen zu lassen. Die Funktion der Krematorien im Vernichtungssystem wurde in der Regel erst spät thematisiert. Eine der wenigen sichtbaren Ausnahmen ist das 1949 in Hamburg auf dem Ohlsdorfer Friedhof aufgestellte KZ-Opfer-Mahnmal, das in 105 Urnen die Aschen von Opfern aus sämtlichen Konzentrations- und Vernichtungslagern enthält. Davon abgesehen wird das Problem erst seit Ende des 20. Jahrhunderts in Ausstellungen und KZ-Gedenkstätten verstärkt reflektiert – beispielsweise indem man sich mit der Rolle der Zivilingenieure bei der millionenfachen Spurenbeseitigung befasst. Im Jahr 1995 präsentierte das Deutsche Historische Museum in Berlin die Nachbildung eines Krematoriums aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im Maßstab 1 : 15.

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